218 Ludwig Bernhard, Die preussische Polenpolitik.
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6. Die Versöhnungspolitik Wilhelms II. und ihre Folgen.
Wie seine Vorgänger hat auch Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt vertrauensvoll
den Versuch gemacht, zwischen den Deutschen und den Polen ein gutes Verhältnis herzustellen und
den polnischen Wünschen entgegenzukommen.
Die Zugeständnisse, welche den Polen in der Versöhnungsära Wilhelm II. (1890—94) ge-
macht wurden, waren insbesondere folgende: Nach dem Episkopat des Deutschen Dinder wurde
wieder ein Pole, der Abgeordnete von Stablewski, Erzbischof von Gnesen und Posen; ferner wurde
die Bismarck’sche Ausweisungspraxis im Jahre 1891 gemildert; im April desselben Jahres wurden
den Polen gestattet, in den Schulräumen polnischen Privatsprachunterricht erteilen zu lassen. Auch
wirtschaftlich wurden die Polen, die sich nach dem scharfen Eingreifen der Bismarck’schen Ansied-
lungspolitik in recht bedenklicher Lage befanden, jetzt von der Regierung gestärkt. So kamen z. B.
die königlichen Generalkommissionen den jungen in Geldverlegenheiten befindlichen polnischen
Wirtschaftsorganisationen zu Hilfe, ausserdem erhielten die polnischen Genossenschaften zu ihrer
eigenen freudigen Überraschung das Revisionsrecht, das noch heute deren feste rechtliche Grundlage
bildet, Ja man kann geradezu sagen, dass der Aufschwung der polnischen Genossenschaften, die
zersplittert und schwach waren, von jener versöhnenden Verfügung des preussischen Handels-
ministers Freiherrn v. Berlepsch her datiert.
Trotz dıeser Bemühungen aber musste man bald erkennen, dass der erwartete Friede nicht
kam. Zwar gingen polnische Führer am Berliner Hofe und in den preussischen Ministerien freund-
schaftlich ein und aus, jedoch ın der Provinz selbsterhob sıch eine von Woche zu Woche anschwellende
nationalpolnische Bewegung, welche die günstige Gelegenheit ausnutzen wollte, um die Provinzen
Posen, Westpreussen und Schlesien nach Möglichkeit zu polonisieren. Insbesondere verlangte man
die Beseitigung der Ansiedlungskommission und die Wiedereinführung der polnischen Schulsprache
ın Posen, Westpreussen und Schlesien, und solche Forderungen wurden nicht nur in der Presse und
in Versammlungen gestellt, sondern von einflussreichen Mitgliedern des polnischen Adels und der
Geistlichkeit.
Die deutsche Bevölkerung hatte mit wachsender Sorge beobachtet, wie die preussische
Regierung vor den polnischen Ansprüchen zurückwich, und wie der polnische Einfluss sich infolge-
dessen auf allen Lebensgebieten immer stärker geltend machte. Wieder wie in den früheren Ver-
söhnungsepochen zeigte sich, dass die preussischen Lokalbehörden einer polnischen Organisation
nicht gewachsen waren, welche beim Berliner Hofe und in den Ministerien starke Stützen fand. Man
befürchtete, dass die Regierung durch weiteres Entgegenkommen die Provinz politisch gefährden
und das Land den deutschen Bewohnern verleiden könnte. So reifte bei den Deutschen der Plan,
durch eine Wallfahrt zum Fürsten Bismarck gegen eine Politik der Zugeständnisse zu protestieren.
Diese Bemühungen, die zur Gründung des deutschen Ostmarkenvereins führten, hatten den Erfolg,
dass die Konservativen und die Nationalliberalen der Regierung in der Polenpolitik entgegentraten
und weitere Zugeständnisse verhinderten.
Sobald den Polen klar wurde, dass die preussische Regierung die äusserste Grenze der Nach-
giebigkeit erreicht hatte, erhob sich in der Provinz ein solcher Sturm, dass die polnische „Ver-
söhnungspartei‘ jeden Rückhalt verlor. Die polnischen Freunde der preussischen Regierung aber
konnten sich vor der Wut ihrer Landsleute nur dadurch schützen, dass sie selbst jetzt in der schäristen
Weise der preussischen Regierung entgegentraten.
So ist es gekommen, dass in dem Kampf um die Verwaltung nichts so lähmend gewirkt hat als
die vorzeitigen, übereilten ‚Versöhnungsversuche‘.
Denn erstens wurde die polnische Bevölkerung dadurch über ihr Verhältnis zum preussischen
Staate immer wieder irregeführt, die Träume von Losreissung oder doch Sonderstellung der Polen
wurden immer von neuem rege und erschwerten die Befestigung der Verhältnisse. Politische Agı-
tatoren gewannen dadurch Macht, und internationale Intriguen wurden zwischen Posen, Krakau
und Warschau angezettelt.
Bedenklicher noch ist die zweite Wirkung der Versöhnungsversuche:
Polnische Führer insbesondere aus der Aristokratie und polnische Organisationen, insbe-
sondere solche mit geistlicher Leitung, fanden in Berlin bei den Ministerien und an noch höheren