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Fritz Zadow, Der deutsche Kolonialbestand.
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teidigung seiner schwerwiegenden Interessen in Ostasien genötigt war, ebenfalls ein kleines Küsten-
gebiet zu erwerben. Was die Wahl des Platzes betrifft, so bleibt es ein Ruhmestitel der deutschen
Wissenschaft, dass der Geograph Ferdinand von Rıchthofen, der berühmte Erforscher
Chinas, als erster bereits im Jahre 1869 die natürlichen Bodenschätze von Schantung erkannt und
hingewiesen hatte auf die Bedeutung, welche das Einbruchstor Kiautschou für die Erschliess-
ung des Hinterlandes und als Operationsbasis für dıe von deutschem Kapital ins Leben zu rufenden
wirtschaftlichen und Verkehrs-Unternehmungen ın China besass. Die im Frieden von Schimonoseki
versäumte Gelegenheit bot sich im Jahre 1897, als ın der Provinz Schantung bei einer von der
chinesischen Behörde geduldeten Aufhetzung zwei deutsche Missionare ermordet wurden, worauf
eine Kreuzerdivision den Befehl erhielt, die Bucht von Kıautschou zu besetzen und die erforder-
liche Sühne von China zu erzwingen. Am 14. November erfolgte die Landung in Tsingtau und nach
längeren Verhandlungen kam es zwischen Deutschland und China zu dem Vertrage vom 6. März 1898,
durch welchen das Gebiet nördlich und südlich vom Eingange der Kiautschoubucht nebst dieser
selbst und den zugehörigen Inseln dem Deutschen Reiche „pachtweise auf vorläufig 99 Jahre“
überlassen wurde. .
Eine weitere Ausdehnung des deutschen Kolonialbesitzes bedeutete die seitens Spanien
im Madrider Vertrag vom 12. Februar 1899 erfolgte Abtretung der Karolinen und Mari-
anen gegen eine Summe von 162], Millionen M. Das gleiche Jahr brachte endlich als jüngstes
Glied Neu-Deutschlands nach langwierigen Streitigkeiten und Verhandlungen mit England und
den Vereinigten Staaten von Nordamerika die beiden Samoa-Inseln Upolu und
Sawaii, die seit vielen Jahren ein Zankapfel der drei Nationen gewesen waren.
II.
Bedeutung der Kolonien für die deutsche Volkswirtschaft.?)
Bei der Erwerbung einer Kolonie muss vor allem die Frage erwogen werden: Welchen
Nutzen hat de heimische Volkswirtschaft von dem überseeischen Besitz? Für
die Beantwortung der Frage kommen drei Gesichtspunkte ın Betracht: de Auswanderung,
der Absatz heimischer Fabrikate und der Bezug notwendiger Roh-
stolle.
Hinsichtlich dr Auswanderung ist das Deutsche Reich nicht so günstig gestellt
wie andere Länder, da sich bisher die Auswanderer — in der Regel jährlich etwa 30 000 Köpfe —
nach Nord- und Südamerika wandten, wo sie in den meisten Fällen dem Deutschtum verloren gehen.
Es gilt daher, diese Auswanderer nicht nur als Deutsche zu erhalten, sondern sıe zugleich den
Interessen der alten Heimat dienstbar zu machen. Trotzdem Deutschland über einen überseeischen
Besitz verfügt, der das Mutterland um das Fünffache übertrifft, kommt dieser grosse Flächenraum
nur zum Teil als Siedelungsgebiet in Betracht, da er mit Ausnahme von Kiautschou und Deutsch-
Südwestafrika in den Tropen liegt, deren Klima eine Masseneinwanderung weısser Kolonisten un-
möglich macht. Nur auf den gesunden Plateaulandschaften des innerafrikanıschen Hochlandes
können Europäer dauernd leben und arbeiten. Die malariafreien Hochländer Deutsch-
Ostafrikas haben zusammen die Ausdehnung des Königsreichs Preussen, und besonders ım
Dschaggaland am Kilimandscharo, am Meru und ın Usambara, ın den Hochlandschaften des
Schiefergebirges und auf dem Zwischenseenplateau in Uhehe und ım Kondelande besitzt diese
Kolonie Landstriche, die bereits Anfänge europäischer Kolonisation aufweisen. Auch das hoch-
gelegene Hinterland von Kamerun kannals deutsches Auswanderungsgebiet ın Betracht kom-
men, während Togo sich wegen des Mangels entsprechender Höhengebiete ın keiner Weise dazu
eignet. Die einzigen tropischen Schutzgebiete, in denen keine Malaria herrscht, sınd Samoa,
die Karolinen, die Palau-, Marıanen- und Marshall-Inseln, welche Gebiete
indessen nur einer beschränkten Anzahl von Auswanderern Raum gewähren. Kıautschou
und die neutrale Zone haben bereits eine so dichte Bevölkerung, dass sie ala Auswanderungsgebiet
ausscheiden. Deutsch-Südwestafrika istin erster Linie Viehzuchtsgebiet und kommt
?) Vgl. hierzu besonders Hassert, S. 577—618; Jöhlinger 8. 56-93; Dernburg 8.23—5l.