Adolf Günther, Streik, Aussperrung und Boykott. 19
so stand auch das unter annähernd gleichen wirtschaftlichen Bedingungen lebende Ausland unter
dem Koalitionsverbot, dem z. B. die junge französısche Republik 1791 scharfen Ausdruck ver-
lieh. In England hielt die Gesetzgelung seit dem Streikverbot von 1549 durchaus an dem gleichen
Grundsatze fest.
Aber eben von England aus erfolgte im neunzehnten Jahrhundert der Gegenstoss.
Nachdem im Gefolge des wachsenden Streikfiebers noch 1800 das Verbot in verschärfter Form
aufgenommen worden war, wurde es 1824 aufgehoben. Die Chartistenbewegung fand auf diese
Weise freien Spielraum. In Frankreich erwies sıch die koalıtionsfeindliche Gesetzgebung
ebenfalls ohnmächtig, es erfolgten zahlreiche gesetzgeberische Reformen, die erst mit dem Jahre
1884 eine einigermassen feste Grundlage schufen. In den deutschen Parlamenten nehmen
die Anstürme gegen das herrschende Verbot durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren
steten Fortgang, sie erzielten seine Aufhebung zunächst ın Sachsen, der Norddeutsche
Bund schloss sich 1869 an und das Reich übernahm als grundlegendes Prinzip die Frei-
gabe der Koalıtıon in seiner Gewerbeordnung.
Indessen ıst der heutige Rechtszustand ın Deutschland durchaus kein sıcherer. Diereichs-
gerichtliche Rechtsprechung gibt einen guten Massstab für dıe inneren Schwierigkeiten
der heutigen Koalitionsordnung ab, Schwierigkeiten, dıe ın der bekannten weiten Ausdehnung des
Erpressungsparagraphen ım Strafgesetzbuch, die weiter in der Auffassung der $$ 823 und 826 BGB.
und vor allem in der recht unsicheren Begriffsbestimmung der $$ 152, 153 RGO selbst wurzeln.
An der Hand einiger der wichtigsten Entscheidungen des Reichsgerichts sei die Rechtslage gleich-
mässıg für Streik, Aussperrung und Boykott beleuchtet:
„Die angeklagten Gewerkschaftsführer sind dem S. (Kläger) in höhnischer und dreister
Weise mit der einseitigen Aufforderung und Ankündigung entgegengetreten, dass der ge-
forderte Arbeitslohn an demselben Tage bis Nachmittag an die Lohnkommission auszuzahlen se1,
widrigenfalls von den Arbeitern gestreikt würde.‘ Dieser Tatbestand enthält nach Urteil des
Reichsgerichts die Erpressung. Indessen ıst dieser Standpunkt ın mehreren neuen Entschei-
dungen ausdrücklich verlassen worden; er hätte das Koalıtionsrecht negiert und den Lohnbe-
wegungen Anarchie und Zügellosigkeit gesichert, indem er die Verhandlung der Parteien praktisch
unmöglich gemacht hätte. Wenn damit (und hoffentlich ebenso mit seiner neuen gesetzlichen Fas-
sung!) auch der Anwendung des Erpressungsparagraphen eın Ende gemacht ist, so besteht weiter
die KlippederSchadensersatzansprücheaufGrund des bürgerlichen Rechts. Wieder-
holt sind sie ebenso gegen Arbeitgeber wıe Arbeitnehmer geltend gemacht worden und das Reichs-
gericht hat sich ihnen (so in einem Prozess gegen den Verband Berliner Metallindustrieller) nıcht
verschlossen. Die von dem Verbande über einen Gussputzer verhängte Sperre liess das Reichs-
gericht die Frage aufwerfen, „ob nicht eine Einrichtung, die einem Unternehmerverbande einen
so eminenten Eingriff ın dıe Betätigung der Arbeitskraft eines andern ermöglicht und bezw. die
Betätigung der dadurch gegebenen Gewalt, als gegen das Gesetz verstossend anzusehen seı“, und
unter allen Umständen erachtete das Gericht die Art der Kampfführung seitens des Verbandes
„als gegen die guten Sitten verstossend‘“.
In emem gewissen Gegensatz zu dieser Auliassung steht aber eine andere, ebenfalls von einem
reichsgerichtlichen Zivilsenate vertretene,wonach die Boykottierungnicht schlechthin als un-
crlaubt gelten könne. ‚‚Sie ist gleich dem Streik ein Kampfmittel, durch das ein Zwang auf Arbeit-
geber ausgeübt werden soll.“ Man kann vielleicht als das Kriterium, das eine Brücke zwischen den
beiden gegensätzlichen Meinungen schlagen könnte, ansehen, ob die Mıttelund dieSchärfe,
mit der ein Kampf geführt wurde, sittlich zulässig erschienen. In ähnlicher Weise entschied jeden-
falls das Reichsgericht wiederholt die Frage, ob die Materialiensperre seitens eines Kartells den
Aussenseitern gegenüber erlaubt erscheine. Immerhin fusst dann die gesamte Rechtsprechung
derart auf subjektiven Erwägungen, dass von einer festen Grundlage gewiss keine Rede seın kann.
Das hat den leider oft ganz unzulänglichen Verwaltungsmassnahmen Vorschub ge-
leistet, es bedurfte wieder höchstgerichtlicher Entscheidung, um dasStreikpostenstehen,
wohl eine unerlässliche Voraussetzung erfolgreicher Lohnkämpfe, gegen Strafbescheide von Ver-
waltungsbehörden wenigstens grundsätzlich zu legitimieren. Neuere Urteile, insbesondere auch
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