Willibald Stavenhagen, Das Deutsche Volksheer. >85
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abgesehen von der force noire in Marokko, Algerien usw.°) Umsomehr hat Deutschland, dessen Boden seit der
Völkerschlacht von Leipzig kein feindliches Heer mehr betreten hat und betreten darf, und das die Kultur der
weissen Rasse in den Zukunftskämpfen mit zu erhalten hat, die Pflicht, den friedlichen Wettbewerb mit mächtigen
Nationen um den Unterhalt seines Volks, wie den Anteil an den grossen Kulturaufgaben und -Gütern der Mensch-
heit sich durch einstarkes Heerundeinewohlgerüstete Flotte zu ermöglichen. Wehr- und Volkskraft
fallen zusammen, und ein Reich wie das deutsche, das durch die Armee geschaffen wurde, kann — wie alle grossen
Dinge — auch nur durch dieselbe Schöpferkraft erhalten bleiben.
Leider gibt es heute viele Momente, die uns vom Begriffe des Volksheeres als einer Erziehungsschule für
alle Kreise unserer immer wachsenden Bevölkerung nicht nur entfernen, sondern sogar die Armeeschwächen.
Nicht nur verhindern volkswirtschaftliche Gründe eine Steigerung der Heeresstärke entsprechend der Volks-
vermehrung, sondern bei den engen Beziehungen zwischen der politischen und sozialen Entwicklung des Staats-
lebens zum Heerwesen hat auch der Volks- und Zeitgeist einen grossen Einfluss, und nur, wenn er gesund ist,
kann es: eine gute Armee geben. Ist die Nation blühend und kernig, zugleich opferfreudig, so wird auch ihr liebstes
Kind, das Volksheer, gedeihen. Zumal in Zeiten langen ‚‚bewaffneten‘‘ Friedens, wo die Kriegsgewohnheit und
Kriegsbegeisterung immer mehr verloren gehen und Kriegsmüdigkeit, Weichlichkeit, Üppigkeit des an Kultur-
genüssen überreichen materiellen Lebens, sowie eine Art Feminismus an ihre Stelle treten; dadurch einerseits,
dann aber auch durch das Wohnungs- und Fabrikselend den kriegerischen Geist und die körperliche Tüchtigkeit
des Volkes herabsetzen und besorgniserregend weite Kreise der Nation erfüllen. Der ungünstige Einfluss des
grossstädtischen, besonders des industriellen Lebens — jeder 5. Deutsche ist Grossstädter — wirkt auf die Wehr-
fähigkeit, so dass z. B. in Berlin, wo die Abnahme am stärksten ist, die Militärtauglichkeit 1908 nur noch 34 v. H.
(gegen 59 v. H. der Gesamtheit der Städte über 50 000 Einwohner und 66,7 v. H. im Elsass) der Geborenen
betrug. 1912 waren von den endgültig Abgefertigten nur 55,5 v. H. der in der Stadt Geborenen tauglich, sofern
sie Land- und Forstwirtschaft trieben, nur 50,75 v. H., wenn sie andere Berufe ausübten. Aber auch die sonst
günstigere Bedingungen liefernde Bevölkerung der auf dem Lande Geborenen, selbst der rein landwirtschaftlichen
Volksmassen, leidet an Unterernährung, Landflucht, Mangel an Mutter- und Säuglingsschutz und verliert so an
Tauglichkeit (heute nur noch 60 v. H. und überhaupt sind tauglich nur 53 v. H. der Abgefertigten).. Dazu
kommt der Fall der Geburtenziffer aus wirtschaftlichen Gründen, d. h. die absichtliche Beschränkung der Kinder-
zahl (Neumalthusianismus), nicht etwa die Abnahme der physiologischen Fruchtbarkeit. Von 1906—11 ist sie
um 4,6 vom Tausend geringer geworden und auf 29,5 gesunken. Seither ist der Rückgang des Ueberschusses noch
grösser geworden, obwohl er noch immer die Zahl der Todesfälle überwiegt und unsere Bevölkerung jährlich noch
um 885 000 Köpfe = 1,38 v. H. wächst, so dass das Heer heute noch Menschenmaterial genug hat, Auch das
recht zweifelhafte Einjährig-Freiwilligen-Privileg, das hauptsächlich den besitzenden Klassen zugute kommt,
ohne doch, wenigstens in der bei uns üblichen Form der Dienstleistung, einen guten Nachwuchs an Reserveoffizieren
zu gewährleisten, und das, wie alles sogen. ‚‚Berechtigungswesen‘, zudem erhebliche pädagogiscre und soziale
Nachteile hat, durchbricht den Charakter des Volksheeres. Die Franzosen haben es längst mit Recht abgeschafft.
Beseitigung vorallem des Wohnungselendes, ferner eine gute, staatlich beeinflusste
Jugenderziehungin Haus und Schule, die die männliche und weibliche Jugend — auch auf letztere kommt
für die Wehrfähigkeit ungemein viel an — sittlich, geistig und körperlich stählt, ihr den Begriff von Pflicht und
Autorität, dann "Herzensbildung und brüderliche Gesinnung beibringt, dem Kastenhochmut entgegentritt und
reinen opferfreudigen und wahrhaft vaterländischen Geist pflegt, der das Ganze, das Volk und den Staat, nicht die
Partei und die Klasse vor Augen hat, zugleich durch gesunde Leibesübungen, massvollen Sport und wirkliche
Körperkultur der Rassenentartung vorbeugt, sind dringend vonnöten. Namentlich auch der unehelichen
Kinder, deren Zahl bedenklich steigt, muss man sich früh annehmen, ihre Verwahrlosung durch amtlich zu be-
rufene freiwillige Vormundschaft verhüten und die hier wie in keinem anderen Staate grosse Sterblichkeit zu
verhindern suchen.
Nicht minder wichtig ist eme bessere Fürsorge für drealten Soldaten und deren Hinter-
bliebene, eine Pietät, an der es uns, besonders bei den Altpensionären und Veteranen, noch sehr fehlt. Wird diese
Ehrenpflicht der Nation weiter verabsäumt, so darf man nicht hoffen, dass die waffenfähigen Leute freudig in den
Kampf ziehen werden und innere Zufriedenheit im Volke herrscht. Es leidet aber auch der Offizier- und der
Unteroffizierersatz, die beide eine Lebensfrage für das Heer sind. Besonders der Offizier, soll er seine geschicht-
lich gewordene Stellung behaupten, muss sich aus den besten Kreisen der Nation ergänzen und durch gute Bezüge
und ausreichende Versorgung, nicht blos durch Pension, sondern später auch in würdigen Zivilstellungen, vor Not
geschützt sein. Auch sein militärisches Wirken Ist ja in den meisten Fällen, um das Offizierkorps frisch für seine
schweren Aufgaben zu erhalten, nur ein Durchgangsberuf. Möglichst früh hat deshalb ein Ausmerzen ungeeieneter
Elemente zu geschehen, schon um ihnen auch noch rechtzeitig die Wahl eines passenden Berufs zu ermöglichen.
Ferner darf der Offizier nicht zu lange in untergeordneten Stellen, namentlich der aufreibenden des Kompagnie-
Chefs weilen und dort seine Kraft vorzeitig verbrauchen, wie andererseits auch nur in der Praxis reich erfahrene
Männer in die leitenden Führerstellen gelangen dürfen, so dass nicht aus übertriebener Sorge vor Überalterung
fähige Offiziere jüngeren, aber nur mehr oder minder theoretisch, nicht durch die Front praktisch gebildeten
Kameraden weichen müssen. Altersgrenzen sind vom Übel, es kann nurindividuell verfahren werden. Das
6) Schon Friedrich der Grosse hat bei nur 2%, Millionen Einwohnern des damaligen Preussens eine wesent-
lich stärkere Armee verhältnismässig unterhalten, als das heutige Deutsche Reich. Ebenso waren die Aufgebote
des halb ohnmächtigen Preussen 1813 weit zahlreicher und ermöglichten, einen Napoleon niederzuringen,