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Hans Plehn, Grossbritanniens auswärtige Politik.
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mit entschiedenem Unbehagen aufgenommen, da sie das Gleichgewicht im Mittelmeer zu un-
gunsten Einglands zu verschieben schien.
Die ersten Voraussetzungen der neuen Orientierung der englischen Politik waren dieser
Umschwung der öffentl'chen Meinung, der Thronwechsel (1901), und die durch den Rücktritt
Lord Salisburys verursachte Rekonstruktion des unionistischen Kabinets (1902). Das erste
deutliche Anzeichen der Wandlung war die Reise König Eduards nach Paris i. J. 1903; die
erste Etappe das Abkommen vom 8. April 1904. Dies war an sich ein kolonialpolitischer
Ausgleich, wie England deren in den 80er und 90er Jahren mehrere geschlossen hatte, wenn
auch bisher nicht auf so breiter Basis. Auch von jenen früheren kolonialen Ab-
kommen hatten mehrere ein Rapprochement mit dem Lande, mit dem sie geschlossen
wurden, zur Folge und zum Zweck gehabt. Von wesentlicher Bedeutung war aber
jetzt, dass Frankreich seine bisherige Opposition in Ägypten aufgab, während England seinen
Widerstand gegen die französische Marokkopolitik einstellte und Frankreich darin seine diplo-
matische Unterstützung zusagte. Die französische Marokkopolitik war dadurch, dass sie bei der
Entscheidung über Marokko Deutschland absıchtlich ıgnorieren wollte, zugleich eine europäische
Politik, und England liess sich somit stärker in die europäische Kontinentalpolitik hineinziehen,
als es seit Jahrzehnten getan hatte, wenn man von der Orientpolitik absieht. Dass sich auf der
Basis des Abkommens von 1904 so schnell eine bündnisartige Entente zwischen England und Frank-
reich entwickelte, war hauptsächlich eine Folge des ostasiatischen Krieges und der deutschen
Marokkopolitik. Sowohl England als Frankreich waren durch ıhre Bündnisse zur Teilnahme an
dem Kriege verpflichtet, sofern er nicht auf Russland und Japan beschränkt blieb. Eine Verstän-
digung zwischen England und Frankreich, der ja bereits stark vorgearbeitet war, war demnach
In beider Interesse erwünscht; und es ıst bekannt, dass Frankreich sich sehr eifrig um die schieds-
gerichtliche Austragung der Doggerbankaffäre bemüht hat. Eine Kooperation beider Regierungen,
für die die öffentliche Meinung Frankreichs anfangs ungleich weniger begeistert war als die englische,
war damit eingeleitet; und der Wıderstand, den Deutschland gegen die einseitige Verständigung
beider Mächte über Marokko und gegen die französische Marokkopolitik erhob, hat die Entente
gefestigt. England hielt es in seinem eigenen Interesse, eine Isolierung Frankreichs zu verhindern,
da eine eventuelle Niederlage Frankreichs zu seiner eigenen Isolierung führen könnte; und so trat
es anstelle Russlands, das in Ostasien engagiert war, an dıe Seite Frankreichs. Man kann zwar
heute mit Bestimmtheit sagen, dass zwischen den beiden Regierungen keine bestimmten Verab-
redungen oder Verpflichtungen für den Kriegsfall bestanden haben, aber es musste trotzdem als
sicher gelten, dass im Kriegsfalle beide Mächte auch ohne derartige Abmachungen gemeinsam
handeln würden.
Es bestand nun weiter die Tendenz, diese englisch-französische Entente auszudehnen.
Italiens Verhältnis zu England wurde wieder intimer, seitdem die englisch-französische Entente
bestand; und Italien war durch seine Absichten auf Tripolis genötigt, die Marokkopolitik Frank-
reichs zu unterstützen, und ging daher auf der Algeciras-Konferenz mit den beiden andern befreun-
deten Mittelmeermächten. Ebenfalls war Spanien durch die geheimen Verträge über Marokko
verpflichtet worden, und im Juni 1907 fand zwischen England und Frankreich einerseits und Spanien
andererseits ein Notenwechsel statt, die die Zugehörigkeit Spaniens zu der englisch-französischen
Gruppe anzeigten. Von weit grösserer Bedeutung aber war, dass im September 1907 der lange
vorbereitete Vertrag zwischen England und Russland über Persien, Afganistan und Tibet zustande
kam. Der Form nach war auch dieser Vertrag, wie der von 1904, ein rein kolonıalpolitischer Aus-
gleich; und die Frage war, ob sich auch aus ihm eine Kooperation beider Mächte ın den grossen
politischen Fragen entwickeln würde. Dass in England dieser Wunsch jedenfalls für dıe Balkan-
politik bestand, kann nicht bezweifelt werden; mindestens erstrebte die englische Politik, ein
defensives System von Ententen zu schaffen, um eine deutsche Expansionspolitik oder auch eine
aktive deutsche auswärtige Politik durchkreuzen zu können.
Durch das englisch-russische Abkommen wurde nicht, wie durch das englisch-französische
in bezug auf Marokko, über die Zukunft von Ländern verfügt, an denen Deutschland Interessen
von grosser Bedeutung besass. Indes begann England jetzt mit Russland über Mazedonien zu