Hans Plehn, Der britische Imperialismus.
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fassung zu konstruieren, mit einem Reichsrat oder einem Reichsparlament an der Spitze, die über
den Parlamenten sowohl des Mutterlandes als der Kolonien stehen würden (Imperial federation).
Der zweite Weg war, eine handelspolitische Einigung zu begründen, und der dritte, einen Reichs-
wehrverband zu schaffen. Soweit diese Gedanken und Bestrebungen von England ausgingen,
hatten sie eine mehr oder weniger ausgesprochene zentralistische Tendenz. Eben deshalb musste
die Verwirklichung dieser älteren imperialistischen Ideen scheitern, da die Kolonien durchaus nicht
geneigt waren, etwas von Ihren autonomen Rechten aufzugeben.
Die Erörterungen über eine Reichsverfassung sind bis auf die Gegenwart gänzlich akade-
misch geblieben. Eine Bundesverfassung mit einem Reichsrat oder Reichsparlament wäre nur
unter der Voraussetzung denkbar, dass die Parlamente sowohl des Mutterlandes als der Kolonien
einen beträchtlichen Teil ihrer Kompetenz an die zentrale Behörde abträten. Dafür ıst auf keiner
Seite Neigung vorhanden, und jeder Versuch, einen Modus für die Vertretung des Mutterlandes
und der Kolonien in dem Reichsrat zu finden, stiess auf Widerspruch von allen Seiten. Dagegen
hat sich in den Konferenzen, die zwischen den englischen und den kolonialen Ministern von Zeit
zu Zeit in London stattfanden, eine grössere Annäherung zwischen den einzelnen Teilen des Reichs
vollzogen. Die erste Kolonialkonferenz wurde 1887 anlässlich des Regierungsjubiläums der Königin
Viktoria einberufen. Sie beiden folgenden schlossen sich an das zweite Jubiläum der Königin 1897
und an die Thronbesteigung König Eduards 1902 an, und seit 1907 sind sie eine feststehende Insti-
tution geworden. Die Konferenzen haben unzweifelhaft viel dazu beigetragen, den Reichsgedanken
in den Kolonien zu stärken. Die Bewegung war ın England entstanden; die imperialistischen Ver-
eine warben in den Kolonien für die neue Idee, und Joseph Chamberlain, der 1895 das Kolonial-
amt übernahm, gab der englischen Politik eine ausgeprägt imperialistisches Gepräge. Neben
dem Mutterlande wurde Südafrika, namentlich durch Cecil Rhodes, ein zweites imperialistisches
Zentrum. In Kanada, Australien und Neuseeland wurde der imperialistische Gedanke erst durch
den Burenkrieg populär; die Kolonien schickten Kontingente von Freiwilligen nach dem Kriegs-
schauplatz. Indes zeigte sich schon damals der Gegensatz zwischen der zentralistischen Haltung
der englischen Imperialisten und den dezentralistischen Tendenzen der Kolonien, wenn auch
dieser Gegensatz dem Mutterlande erst später völlig zum Bewusstsein kam.
Was die praktische Politik betrifft, so hatte Lord Salisbury auf der Kolonialkonferenz von
1887 dıe Gründung eines ‚„‚Kriegvereins‘‘ — er bediente sich dieses deutschen, aber in Deutschland
ganz ungebräuchlichen Wortes — angeregt. Die Kolonien sollten zu der Reichsverteidigung bei-
tragen, anstatt wie bisher die ganze Last dem Mutterlande allein zu überlassen. Erreicht wurde
aber nur ein Flottenabkommen mit Australien (1887); die Kolonie zahlte einen Geldbeitrag, und
dafür schuf die Admiralität neben dem bestehenden australischen Geschwader ein Hilfsgeschwader,
das än die australischen Gewässer gebunden sein sollte. Dies Hilfsgeschwader bildete einen inte-
grierenden Bestandteil der englischen Flotte. Während die wehrpolitischen Vorschläge von England
ausgingen, interessierten sich die Kolonien mehr für die handelspolitischen Fragen; und dieser
Anregung folgend wandte sich Chamberlain dem Problem der handelspolitischen Einigung zu
Hier bestanden in England zwei Richtungen; die eine erstrebte ein System differentieller Vorzugs-
zölle zwischen dem Mutterlande und den Kolonien, die andere wollte einen Zollverein mit Freihandel
ım Innern und mit gemeinsamen Schutzzöllen nach aussen. Ein differentielles Zollsystem hatte
im Reiche bestanden, bevor England zum Freihandel überging; in England wurde dieser Gedanke
in der Wirtschaftsdepression der 80er Jahre von der Fair Trade League aufgenommen, und auch
die interkoloniale Konferenz in Ottawa (1894) trat dafür ein. Zugleich wurde in Ottawa eine Reso-
lution angenommen, dass die englische Regierung die Meistbegünstigungsverträge kündigen sollte,
die die Kolonien hinderten, dem Mutterlande Vorzugszölle zu gewähren. Auf der Kolonialkonferenz
von 1897 entwickelte Chamberlain den Plan eines Reichszollvereins mit Freihandel ım Innern;
allein die Kolonien waren dagegen, weil dadurch ihre eigene Schutzzollpolitik aufgehoben und die
Grundlage ihrer gesamten Finanzpolitik zerstört worden wäre. In demselben Jahre führte Kanada
einen neuen Zolltarif mit Differentialzöllen ein; 1898 kündigte England die Meistbegünstigungs-
verträge mit Belgien und Deutschland, und Kanada konntej jetztseine Zollbegünstigungaufdas Mutter-
land beschränken. Die Kolonialkonferenz von 1902 nahm Resolutionen zu gunsten gegenseitiger