Adalbert Wahl, Das zeitgenössische Frankreich. 319
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Frankreich hat seit 1815, abgesehen von einigen Jahren unter Napoleon III., nicht wieder
die alte, den Ehrgeiz des Volkes befriedigende, überragende Stellung in Europa zu erringen vermocht,
die es unter Ludwig XIV. und Napoleon I. innegehabt hatte. Umso erfolgreicher hat das Land,
das im 7 jährigen Kriege, den Revolutions- und napoleonıschen Kriegen sein erstes Kolonialreich
bis auf einige Reste verloren hatte, ein neues gewaltiges Reich jenseits der Meere an die Stelle des
alten gesetzt. Als die britische Regierung im ersten und zweiten Pariser Frieden 1814 und 1815
Frankreich jene Reste seines Kolonialreichs zurückgab, motivierte sie das u. a. damit, dass es klug
sei, den Ehrgeiz des gefährlichen, ruhmsüchtigen Volkes von kriegerischer Betätigung auf Unter-
nehmungen des Handels und der Koloniengründung abzulenken. Diese Ablenkung ist nun zwar
nicht herbeigeführt worden, wohl aber weist der Gedanke der britischen Regierung die Richtung,
in der die auswärtige Politik des französischen Volkes ım 19. Jahrhundert alleindauernd er-
folgreich gewesen ıst.
Es hat sich seit dem Zusammenbruch von 1870 ımmer mehr herausgestellt, dass Frankreich
nicht mehr, wie England oder Deutschland, zu den wenigen Grossmächten gehört, deren Stellung
im wesentlichen und in erster Linie auf ihren eigenen Kräften beruht. Dafür ıst das Land schon in
der Bevölkerungszahl zu sehr zurückgeblieben und die innere Auflösung zu gross. Vielmehr ist
seine Stellung ganz wesentlich auf die Bündnisse und Freundschaften gegründet, die es geschlossen
hat. Von diesen sind weitaus die wichtigsten der Bund mit Russland und die Entente Cordiale mit
England. Der Bund mit Russland, der seit dem Abschluss des Dreibundes und dem Re-
gierungsantritt des persönlich deutschfeindlichen Zaren Alexander III. (1881—1894) ın der Luft lag
und der zum grossen Teil auf dem Gleichgewichtsbedürfnis Europas beruht, der aber von der zu-
gleich vorsichtigen und verwegenen Staatskunst Bismarcks auf einige Jahre hintangehalten worden
war, kam unter Flottenbesuchen und später unter persönlicher Anwesenheit des Jetzt regierenden
Zaren Nikolaus II. in Frankreich in den Jahren 1891—1897 zustande. Die Einzelheiten des Bünd-
nisses, das zweifellos auch militärische Abmachungen enthält, sind nıcht bekannt geworden. Russ-
land hat von ihm auch den Vorteil, in Frankreich eine ergiebige Quelle gefunden zu haben, die sein
oft leeres Geldreservoir speist. So ist in jenen Jahren neben den Dreibund ein Zweibund getreten.
Dasherzliche Einvernehmen mit England, welches erstaunlich bald nach
der schweren diplomatischen Demütigung hergestellt wurde, dıe Fraukreich aus Anlass des Faschoda-
Zwischenfalles ı. J. 1898 von seiten Grossbritanniens erlitten hatte, geht ın erster Linie auf die
Initiative König Eduards zurück und die Leistung der französıschen Staatskunst beschränkt sich
wohl darauf, dass sie bereit war, um der Vorteile wıllen, die die neue Freundschaft bot, jene Ver-
letzung der nationalen Ehre schon nach wenigen Jahren zu vergessen. Die Entente Cordiale kam
1904 zustande und fand in demselben Jahre einen konkreten Ausdruck ın dem Marokko-Abkommen
vom 8. April 1904, in dem — das ist der wesentlichste Inhalt — Frankreich auf Ägypten zugunsten
Englands endgültig verzichtete, während England Frankreich versprach, ıhm bei der Erwerbung
von Marokko behilflich zu sein. Ob das „herzliche Einvernehmen“ sich auch kriegerische Zwecke
gesetzt hat, ıst nicht sicher, aber wahrscheinlich. Nach englischen Erklärungen vom November 1911
fehlen dagegen einzeln e militärische Abmachungen. Die Entente Cordiale ist nun in den letzten
Jahren von immer grösserer Bedeutung geworden, da die Bundesgenossenschaft Russlands seit dem
Zusammenbruch dieses Reichs gegen Japan (1904/5), der russischen Revolution (von 1905 ab), und
neuerdings, seit der Wendung der russischen Interessen vom Westen weg nach dem Osten, sehr vıel
weniger wertvoll geworden ist, schon weil eine grosse militärische Kraftentfaltung ım Westen vom
Zarenreich heute wohl nicht zu erwarten ist; doch hat in der letzten grossen Balkankrise auch die
Eintente Cordiale nicht gehalten, was Frankreich sich von ihr versprach. Das führt hinüber zu dem
Hauptziele, das die französische Politik in Europa verfolgt, und dem auch jene Bündnisse
dıenen sollen. Es kann gar kein Zweifel sein, dass dieses Hauptziel die Revanche gegen Deutschland,
speziell die Wiedererwerbung von Elsass-Lothringen, ist. Um den Dreibund zu sprengen, suchte
Frankreich ferner dauernd Italien von ihm wegzuziehen und es hatte zeitweilig auch ın der Tat
sehr gute Beziehungen zu dem römischen Kabinett hergestellt; im Oktober 1903 weilte König
Vıktor Emanuel mit seiner Gattin als Gast des Präsidenten Loubet in Paris. Die Balkanpoliıtik
Frankreichs ist durchaus konservativ. Schliesslich ist zu erwähnen, dass der innerpolitische Radıka-