104. Abschnitt.
Der Kampf um die Vorherrschaft im Mittelmeer.
Von
Dr. Paul MHerre,
a. 0. Professor der Geschichte an der Universität Leipzig.
Literatur:
P. Herre, Der Kampf um die Herrschaft im Mittelmeer, Leipzig 1909. (Wissenschaft und Bildung 46.)
— G. Egelhaaf, Geschichte der neuesten Zeit vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart. 4. Aufl.
Stuttgart 1913. — Dazu die Literatur von Abschn, 100—103.
Die Mittelmeerfrage gehört zu den ältesten politischen Fragen, dıe dıe Geschichte kennt,
und so verschiedenartig ihre Ausserungen durch die Jahrtausende hindurch sind, so war stets ihr
entscheidender Inhalt das In- und Gegeneinander von Zusammenschluss und Trennung, das durch
die geographischen Verhältnisse bedingt Ist.
Ausgang der jüngsten Phase der Mittelmeerentwickelung ist die Herstellung des Suezkanals,
der dem Mittelmeer in neuer Gestalt die Bedeutung wieder schenkte, die esim Altertum und Mittol-
alter gehabt hatte, denn statt eines Anhängsels des Ozeans war es nunmehr ein wesentlicher Be-
standteil, ja einer der wichtigsten Meeresräume geworden. Mit einer erstaunlichen Plötzlichkeit
lebten die alten Handelsstrassen wieder auf und blühten die südeuropäischen Häfen wieder empor,
dıe einst dıe Weltemporien gewesen waren, und je weiter sich das Gebiet zur viel aufgesuchten Welt-
strasse entwickelte, um so mehr wurde der Mittelmeerraum über dıe räumlich beschränkte Geschichte
hinweg wıeder zu aktiver Teilnahme in die Weltgeschichte hineingezogen. Die dem Meere anwohnenden
Völker waren naturgemäss bestrebt, an der Entwickelung ihres Gebiets beherrschenden Anteil zu
nehmen, aber auch die an der Weltwirtschaft beteiligten Nationen waren genötigt, den Mittelmeer-
Interessen eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Von Osten her schob sıch Russland breit
in den Mittelmeerraum hinein, mit keinem andern Ziele als an die Stelle der zusammenbrechenden
Türkei zu treten und wenigstens den Bosporus und die Dardanellen zu gewinnen, in scharfem Gegen-
satz zur Österreichisch-ungarischen Monarchie, die nach dem Verlust Italiens auf der Balkanhalb-
insel festen Fuss zu fassen suchte. Im Westen suchte Frankreich, das seit 1830 das nordafrikanische
Algıer besass, weiteren kolonialen Raum zu gewinnen. In der Mitte aber blickte das neugeeinte
Italien nach links und nach rechts, im Sinne des grossen Bevölkerungsüberschusses von leiden-
schaftlichen Expansionsgelüsten erfüllt. Selbst das schwache Spanien suchte Anteil an dieser Aus-
breitung. Und zu diesen eigentlichen Mittelmeervölkern trat das seegewaltige England, das bereits
mit dem Besıitze Gibraltars den Zugang vom Atlantischen Ozean und mit dem Besitze Maltas die
Verbindung des westlichen und östlichen Mittelmeerbeckens beherrschte. Die neuen Verhältnisse
im Interesse seiner Macht- und Handelsstellung ausnutzend bemühte es sich in planvoller Arbeit,
die grosse neue Handelsstrasse mit wichtigen Stützpunkten, gleichsam in Etappen, auszustatten.
Wie eine geschlossene Invasion der christlichen Kultur gegen den Islam erscheint dieser Vorstoss
der europäischen Völker. Die Gewinnung der mohammedanischen, d. h. türkisch-arabisch-ber-
berischen Gebiete: das war das gemeinsame Ziel, aber bei seiner Verwirklichung trafen die staat-
lichen Interessen der Mächte scharf auf einander.
Die erste Phase des weltgeschichtlichen Ringens bildet das Vordringen Russlands. Es ıst
an anderer Stelle ausgeführt worden, wie sich den Bestrebungen des Zarenreiches das rivalisierende
Österreich-Ungarn entgegenstellte. Jahrelang verstand es die habsburgische Diplomatie Russland
festzuhalten, ohne jedoch den Waffengang zwischen dem Zarenreich und der Pforte auf die Dauer
verhindern zu können. Der russisch-türkische Krieg der Jahre 1877/78 endete zwar mit der Nieder-