Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

Paul Herre, Der Kampf um die Vorherrschaft im Mittelmeer. 
  
  
  
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Iische Vertrag vom 8. Aprıl 1904, der Frankreich von englischer Seite freie Hand in Marokko sab 
und sogar Unterstützung zur Durchführung der notwendigen administrativen, wirtschaftlichen, 
finanziellen und militärischen Reformen in Aussicht stellte, während die Republik unter Vorbehalt 
der Neutralität des Suezkanals Agypten endgültig England überliess. Im Zusammenhang mit dieser 
Abmachung erfolgte bald darauf (3. Oktober 1904) die Verständigung mit Spanien. Auch dieses 
gab Marokko frei, sicherte sich aber in dem sogen. Rifgebiet, dem nördlichenKüstenstrich am Mittel- 
meer, dem die meist im 16. Jahrhundert erworbenen ‚Presidios“ vorgelagert sind, eine spanische 
Interessensphäre. Italien scheint seine Zustimmung zur Besetzung Marokkos durch Frankreich 
schon vorher gegeben zu haben; dıe des verbündeten Russland lag wohl längst vor. So fiel Deutsch- 
land und Österreich, das politisch, wenn auch nicht faktisch sich in durchaus gleicher Lage mit dem 
Bundesgenossen befand, die schwierige Aufgabe zu, den Sonderverständigungen der Mittelmeer- 
partner das weltwirtschaftliche Interesse entgegenzustellen, und durch die Algecirasakte vom 
28. März 1906 blieb die Souveränetät des Sultans und die wirtschaftliche Gleichstellung aller Na- 
tionen tatsächlich gewahrt. 
Jedoch mit der Zähigkeit verfolgte dıe Iranzösısche Regierung ihr Ziel weiter, zum wenigsten 
in der Richtung der ‚Tunisierung‘“ Marokko zu gewinnen. Immer wieder fand sie Anlass zu Straf- 
expeditionen, und die deutsche Reichsregierung entschloss sıch, einer Politik des Entgegenkommens 
folgend, in einem Abkommen vom 9. Februar 1909 unter dem erneuten Vorbehalt der Souveränetät 
und Unabhängigkeit des Sultans und der wirtschaftlichen Gleichheit Frankreich besondere politische 
Interessen in Marokko zuzugestehen und auf die Verfolgung eigener politischer Ziele ausdrücklich zu 
verzichten. Im Anschluss an eine wenig begründete französische Unternehmung gegen Fez im Som- 
mer 1911, dıe einen Bruch des Februarvertrags bedeutete, gab Deutschland durch Entsendung 
eines Kriegsschiffes nach Agadır sich zwar den Anschein, als beabsichtige es selbständige politische 
Schritte in Marokko zu unternehmen, aber ın der durch Englands Eingreifen bis nahe an den Kriegs- 
ausbruch geführten Krise des Sommers und Herbstes 1911 nahm es von einem ernsten Beschreiten 
dieses Weges Abstand; es überliess Marokko der Republik und begnügte sich mit dem Zugeständnis 
unbedingter wirtschaftlicher Gleichstellung und einigen Landabtretungen im Kongogebiet. Seitdem 
hat Frankreich die schwierige Arbeit in Angriff genommen, das neu gewonnene Land tatsächlich 
zu besetzen und seinem nordwestafrikanischen Kolonialreiche einzuverleiben. In dem Vertrage 
vom 26. Oktober 1912 fand es sich mit den Ansprüchen Spaniens ab, das auf Grund seiner ihm 1904 
eingeräumten Rechte im Juni 1911 in Nordmarokko festen Fuss gefasst hatte und das Rifgebiet 
zwischen Muluja, Uerga und Sebu behauptete. 
Im engsten Zusammenhang mit der Regelung der Marokkoangelegenheit wurde die Ordnung 
der Tripolisfrage versucht. In Tripolitanien hatten die Jungtürken eine für Italiens Aussichten 
gefährliche militärische Tätigkeit entfaltet, die schon die Rückgewinnung verloren gegangenen 
osmanischen Besitzes ım Sudan gebracht hatte, und so glaubte die ıtalienische Regierung, von der 
Volksstimmung getragen, die Krise der Marokkoangelegenheit benutzen zu müssen um von Tripolis 
Besitz zunehmen. Man brach ım September 1911 einen Krieg mit der Türkeı vom Zaune und setzte 
sich ın den trıpolitaniıschen Küstenstädten fest, doch musste wegen der grossen Schwierigkeiten 
von einem Vorstoss ins Innere abgesehen werden. Da die europäischen Mächte, voran Österreich- 
Ungarn, einer Übertragung des Krieges nach der Balkanhalbinsel und einer Aufrollung der ge- 
samten orientalischen Frage sich heftig widersetzten, wussten die Italiener durch die Besetzung 
einiger Inseln des ägäischen Meeres die Pforte zum Nachgeben zu zwingen, und durch den Frieden 
von Lausanne am 18. Oktober 1912, dessen Abschluss durch den Ausbruch des Balkankrıeges be- 
schleunigt wurde, ward Tripolitanien an Italien ausgeliefert. Ob aber die an diese Erwerbung ge- 
knüpften Hoffnungen sıch erfüllen werden, ist durchaus die Frage. Neben der durch England und 
Frankreich bewirkten Abschnürung des Hinterlandes ist hier wie in ganz Nordafrika die Eingebore- 
nenfrage von grösster Bedeutung, Die Berber- und Araberstämme verharren gegenüber der Fremd- 
herrschaft in unbedingter Feindseligkeit, und es mag wohl sein, dass England, Frankreich und 
Italien mit dem Gegensatz der einheimischen Bevölkerung in ernstester Art zu rechnen haben, 
dass eine mohammedanische Bewegung die geschichtliche Entwicklung des Mittelmeergebietes 
noch einmal beeinflusst. 
  
    
  
 
	        
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