Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
336 Paul Herre, Der Kampf um um die Vorherrschaft i im Mittelmeer. 
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Diese Frage ist vor allem an das Schicksal der Türkeı geknüpft, die ın derselben Zeit Schau- 
platz katastrophaler Entwickelungen war. In den zwei grossen Offensiven, die 1912 aufeinander- 
prallten, unterlag das unter Führung der Jungtürken einer Reorganisation entgegenstrebende 
Osmanentum den verbündeten christlichen Balkanvölkern, die unter dem Antriebe des Nationalitäts- 
prinzips die von ihren Volksgenossen bewohnten türkıschen Gebiete der Pforte entrissen. Indem 
die auf der Londoner Konferenz vereinigten europäischen Grossmächte eingriffen, blieb dem Sultan 
nur das östliche Thrazıen auf europäischem Boden erhalten, das unter Ausnutzung des neuen 
Krieges zwischen den über die Verteilung der Beute uneinig gewordenen Siegern nachträglich auf 
Kosten Bulgariens wieder ein wenig vergrössert werden konnte. Das endgültige Ergebnis ist ım 
Zeitpunkt dieser Niederschrift noch nicht erreicht, und eine dauernde Lösung der orientalischen 
Frage wird damit sicherlich nicht gewonnen werden. Neben der Frage der Dardanellendurchfahrt 
und des endgültigen Besitzes von Konstantinopel wird die ägäısche Frage offen bleiben, d. h. die 
Frage, ob die Inselwelt des ägäischen Meeres und vielleicht auch die Kleinasiatische Küste dem 
Griechentum ausgeliefert werden soll, das diese Gebiete bewohnt und kulturell beherrscht. Vor 
allem aber ist die Frage, wie sich die Völkersplitter des Orients mit der unabweisbaren Notwendig- 
keit einer Einheit abfinden werden, Hauptinhalt des Balkanproblems, und da spielen die osteuropäl- 
schen Grossmächte Russland und Österreich-Ungarn die entscheidende Rolle, während der west- 
balkanische Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Italien durch die Schaffung eines selbst- 
ständigen albanıschen Staatswesens erheblich abgeschwächt erscheint. Und ebenso wirr in den 
Einzelverhältnissen, aber auch ebenso beherrscht von den grossen Gegensätzen wie auf der Balkan- 
halbinsel liegen die Dinge ın Kleinasien und Syrien. Hier trıtt auch wieder die bedeutungsvolle 
Frage entgegen, welche Rolle der Islam ın künftiger Zeit spielen wırd. Vor allem handelt es sich 
dabeı um das Problem des Fortbestandes der Türkei. Beı ruhiger Beurteilung ıst die Möglichkeit 
nicht von der Hand zu weisen, dass der Verlust der europäischen Gebiete schliesslich nicht als eine 
Schwächung sondern als eine Stärkung des Osmanentums wirkt. Die asıatische Türkeı ist — bis 
auf die christlichen Armenier — ein Staat mohammedanischer V ölker, und so kann die Idee des 
Kalıfats, mit der das Osmanentum steht und fällt und dıe durch die ungeeigneten abendländischen 
Ideen der Jungtürken erschüttert worden ıst, wıeder entschieden aufgenommen werden. Ebenso 
wenig erscheint es ausgeschlossen, dass eine von semitischen und hamitischen Völkern getragene 
Staatsgründung auf afrıkanischem und syrıschem Boden die alte arabısche Tradition wıeder auf- 
leben lässt, wenn das Türkentum doch versagen sollte. Die Eifersucht der europäischen Mächte, 
die durch bedeutende wirtschaftliche Unternehmungen am Schicksal dieser Gebiete interessiert 
sind, könnte einer solchen Entwicklung förderlich seın, und so hat man noch nıcht das Recht, von 
einem völligen Zusammenbruch der islamischen Welt zu sprechen. Sie bleibt ein wichtiger Zukunfts- 
faktor ım Mitte T 
or ım Mittelmeerraum (Geschrieben im Oktober 1913.) 
  
  
  
 
	        
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