346 Wilhelm Feldmann, Die Türkei nach dem Balkankrieg.
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ın ihrer Note vom 30. Januar 1913, der Antwort auf die Note der Mächte vom 17. Januar, in der
den Türken die Abtretung von Adrianopel empfohlen worden war, aufgezählt, nämlich: die Zu-
stimmung zur Einführung eines unabhängigen Zolltarifs, zum Abschluss von Handelsverträgen
auf der Grundlage moderner Rechtsgrundsätze, zur Ausdehnung der osmanischen Steuergesetze
auf die fremden Staatsangehörigen und vor allem zur Erhöhung der Zölle um 4 Prozent.
Grosse Sorge bereitete der Pforte ım Augenblick der Rückkehr des jungtürkischen Komitees
zur Regierung die arabische Frage. Die Niederlagen der osmanischen Armee in Thrazien und
Mazedonien hatten die — teilweise für fremde (englische oder französische) Rechnung tätigen —
Unruhestifter in Syrien zu so offener Agitation ermutigt, dass ein weiteres Verkennen der drohenden
Gefahr unmöglich gewesen wäre. Die Jungtürken bewiesen dieser Schwierigkeit gegenüber, dass
sie seit den Tagen unkluger Gewaltpolitik in Albanıen etwas gelernt hatten. Statt die Bewegung
nach altem schlechtem Rezept gewaltsam zu unterdrücken, bahnten sie eine gütliche Verständigung
mit den verschiedenen arabischen Gruppen an. Die Araber sandten Delegationen nach Konstanti-
nopel, um durch sie mit der Pforte zu verhandeln. Das erste Zugeständnis der Piorte an die Araber
betraf die Sprachenfrage. Durch eine Zirkulardepesche vom 19. April 1913 wurden die Behörden
der Wiılajets Beirut, Syrien, Aleppo, Bagdad, Bassorah und Mossul sowie des Mütessarıfats Jerusa-
lem angewiesen, die arabische Sprache an vielen Stellen, wo bisher ausschliesslich das Türkische
vorgeschrieben war, als amtliche Sprache zuzulassen. Diese Anordnung wurde Gesetz durch ein —
am 22. August vom türkischen Staatsanzeiger ‚Takwım ı Wekai“ (deutsch: Chronik der Ereignisse)
veröffentlichtes — kaiserliches Iradeh vom 4. Ramasan 1331 (7. August 1913), das zugleich einige
Reformen für alle Wilajets anordnete, nämlich die Auslieferung des für die lokale Wohltätigkeit
bestimmten Wakufbesitzes an die neu eingeführten Verwaltungsausschüsse der mohammedanischen
Gemeinden und das Zugeständnis an die Militärpflichtigen des ganzen Reiches, in ihrer Heimat-
region zu dienen. Die arabisch-türkische Vereinbarung vom Sommer 1913 sieht ausser den Kon-
zessionen in den Fragen des Wakuf, des Militärdienstes und der Sprache einige wichtige Neuerungen
vor, die zunächst geheim gehalten wurden, vor allem das wichtige Zugeständnis, dass ın Zukunft
drei Mitglieder des osmanischen Kabinetts Araber sein sollen. Wie ernst die Araberfrage von den
Jungtürken genommen wırd, bewies im April 1913 eine Äusserung des führenden Organs „Tanın“,
das geradezu erklärte, dıe Türken müssten ım Notfall selbst Araber werden, um ein Schisma, das
den Untergang der Türkei bedeuten würde, zu verhüten. Eine solche Sprache wäre früher, als die
Jungtürken noch auf unbedinster Zentralisation bestanden und die verschiedenartigen Völker der
Türkeı zu einer einheitlichen osmanischen Nation zusammenschweissen zu können wähnten, ganz
unmöglich gewesen,
Das neue Wilajetsgesetz, dessen Ausarbeitung das Kabinett vom 23. Januar 1913 ın den ersten
Wochen nach seinem Amtsantritt vorgenommen hatte, stellt einen glücklichen Ausgleich zwischen
Zentralisation und Dezentralisation dar, in dem es den Wilajets grosse administrative Selbständig-
keit gibt, ohne indessen die Zentralgewalt bedenklich zu schwächen. Es wird ergänzt durch ein
weiteres (Gesetz, das den Wilajets das Recht auf ein eigenes Budget verleiht. Andere Zusatz-
bestimmungen regeln verschiedene Detailfragen. Zur Durchführung dieses grossen Reformgesetzes
beschloss der Ministerrat Anfang Mai 1913 die Einteilung der asiatischen Türkei ın fünf Zonen.
Die erste umfasst Beirut, Damaskus und Aleppo, die zweite Bagdad, Bassorah und Diarbekir, die
dritte Ostanatolien, die vierte und fünfte die übrigen Provinzen ın Kleinasien und an der Küste des
Schwarzen Meeres. In jeder dieser Zonen soll die Ausführung des Wilajetsgesetzes durch eine
dauernde Inspektionskommission mit ausländischen Beiräten überwacht werden.
Besondere Schwierigkeiten stellen sich der Durchführung ernster Reformen ın den ost-
anatolischen Provinzen entgegen. Wir kommen damit zu der sehr komplizierten ‚„armenischen
Frage‘, von der man in Europa vielfach eine grundfalsche Vorstellung hat. Man übersieht vor
allem, dass diese Frage in erster Linie eine Geldfrage ist. Die Ländereien, die den Armeniern unter
dem hamidischen Regime widerrechtlich weggenommen wurden, sind heute als rechtmässiges
Eigentum ıhrer neuen kurdischen Besitzer zu betrachten, denen die alte Regierung sıe zur Beloh-
nung für geleistete Dienste in aller Form übergeben hat. Es würde einen neuen, folgenschweren
Rechtsbruch bedeuten, wenn die jetzige Regierung, wie Ihr von naiven europäischen Beurteilern der