356 Otto Hoetzsch, Die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten von Amerika.
innere Unsicherheit haben wieder in diesem Lande überhand genommen. Inwieweit dabei vorbe-
reıtend amerikanischer privater Einfluss beteiligt ist, dieses Gebiet in die Sphäre der Union herein-
zuziehen, mag dahingestellt bleiben. Der neue demokratische Präsident Wilson wollte sich in die
mexikanischen Angelegenheiten nicht einmischen, aber machte gleich die Erfahrung, dass dıe von
ihm ausgesprochene unbedingte Rückkehr zu den Prinzipien George Washingtons in der auswärtigen
Politik gar nicht mehr möglich ist. Die Ansprüche der Monroedoktrin, kraft deren jede europäische
Einmischung in Mexiko abgewiesen wurde, legen den Vereinigten Staaten auch Pflichten auf. Und
dass diese von der Monroedoktrin auch trotzdem nicht abgehen, lehrte genau zur selben Zeit der
Vertragsentwurf mit Nikaragua, den der Staatssekretär Bryan dem Senat vorlegte. Die Demokraten
warfen seinerzeit dem republikanischen Staatssekretär Knox seine ‚„Dollar-Diplomatie“ vor, aber
der Vertragsentwurf mit Nikaragua zur Sicherung für den Panamakanal ging noch erheblich über
die republikanischen Ansprüche aus der Monroedoktrin hinaus. Denn er suchte Nikaragua In genau
dıeselbe Verbindung mit der Union zu bringen, in der heute Kuba mit ihr steht, d. h. ın völlige Ab-
hängıgkeit. Man geht nun auch Mexiko gegenüber weiter vor; nicht nur die Fäden des Kapıtals und
des Verkehrs ziehen dieses Gebiet wie die kleineren Staaten Mittelamerikas immer stärker ın dıe Netze
der Union, und es ıst nicht wahrscheinlich, dass diese Republiken ihre Selbständigkeit gegen die
Union werden behaupten können.
Darüber hinaus steigert die von der Union beherrschte neue Hochstrasse des Weltverkehrs
ıhre Bedeutung sowohl im Problem des Stillen Ozeans wie für Südamerika. Die pazifische Stellung
der Vereinigten Staaten rundet sich und schliesst sich damit ab. Die für das Jahr 1915 geplante
Weltausstellung in San Franzisko wird das Europa und der Welt überhaupt ganz besonders deutlich
machen, wie das ebenso jetzt schon gespürt wird in den fortwährenden Reibungen zwischen den
Vereinigten Staaten und der anderen Grossmacht des Stillen Ozeans, Japan.
Mit dem Kanal rückt Südamerika dem Norden viel näher und damit wird der früher
utopisch anmutende Gedanke, auch durch eine Eisenbahn den Süden mit der Mitte.und dem Norden
zu verbinden, bald völlıg durchgeführt sein. Damit scheinen die Ve einigten Staaten auf dem besten
Wege, die Vormacht (paramount power) in Südamerika zu werden. Freilich: wenn auch diese Be-
strebungen friedlicher Eroberung von den nach Expansion verlangenden Schichten der Union
energisch gefördert und durch Kongresse, Museen, Besichtigungsreisen, Sprachstudien usw.
propagiert werden, grösser als ın Mittelamerika sind die Schwierigkeiten doch, die
sıch hier der auswärtigen Politik der Vereinigten Staaten entgegentürmen. Weniger vielleicht
gegenüber den europäischen Mächten, die ihren Kolonialbesitz dort nur mühsam behaupten und
die auch ın der Frage bewaffneter Intervention zu Gunsten ihrer Kapitalisten gegen säumige Schuld-
nerstaaten Südamerikas doch in der Hauptsache nachgegeben haben. (Sogenannte Calvo- und
Drago-Doktrin, dass Schuldansprüche das bewaffnete Eingreifen fremder Mächte nıcht rechtfertigen
— eine politische Idee, dıe die Vereinigten Staaten ihrer sehr dehnbaren Monroedoktrin einverleibt
haben.) Aber gegenüber den selbständigen Staaten des Südens, die, besonders Chile, Argentinien
und Brasılien, mit ihren wirtschaftlichen Interessen nach dem näheren Europa gravitieren und ın
ıhrer kirchlichen und Rassenart dem Norden durchaus entgegengesetzt sind. Vor allem haben ja,
dıe Vereinigten Staaten, wenn sie auch noch so sehr imstande sein sollten, durch Kapıtal und Handel
dıe heute noch viel stärkeren europäischen Interessen zurückzudrängen, garnıcht das Menschen-
material, um diese ungeheuren Flächen sich irgendwie dauernd zu sichern, und sie werden nach
menschlicher Voraussicht dieses Menschenmaterial auch so bald nicht haben. Eine Auswanderung
aus der Union nach dem Süden ıst in absehbarer Zeit durchaus nicht zu erwarten.
Vom ganzen grossen Kontinent blieb danach ausserhalb dieses Programms und ausserhalb
auch der Monroedoktrin wenigstens bis in die Gegenwart die grosse englische Kolonie, die im Be-
freıungskampf der 13 Kolonien dem Mutterlande übriegeblieben war: Kanada, das sich ungeheuer
rasch, namentlich ın seinem Nordwesten entwickelt hat und das dem amerikanischen Imperialismus
das Banner des englischen Imperialismus entgegengestellt hat. Kanada füllt sich als ein Glied
In dıesem grossen Zukunftsprogramm Englands, als Lieferant der agrarischen Produkte auf eng-
lıschem Markt bevorzugt zu werden und dafür die englische Industrieeinfuhr seinerseits zu bevor-
zugen. Begreiflicherweise haben die Vereinigten Staaten, seitdem in der sogenannten ÖOregonfrage