©. J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation. 73
nungen. Hier liegt auch eine grosse Aufgabe der anderen Klassen, der Ärzte, Lehrer usw., über-
haupt der Gebildeten auf dem Lande vor.
Nicht eigentlich zur Wohlfahrtspflege nach unserer Definition gehörig sind die ver-
schiedenen Massregeln auf dem Gebiet des Löhnungswesens: Art und Weise der Löh-
nung, namentlich Aufrechterhaltung und Wiedereinführung der Naturallöhnung, welche hier eine
Interessengemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeiter bedeutet, Beteiligung am Reinertrag
usw. Dagegen ist die Einrichtung von Konsumanstalten, welche, wie der Sohnrey’sche
Wegweiser zeigt, in den verschiedensten Formen versucht worden ist, auch ein wichtiges Mittel
der ländlichen Wohlfahrtspflege ın der Lösung der ländlichen Arbeiterfrage; ebenso die Förderung
der Ziegenhaltung, die Bekämpfung der Trunksucht und dıe Hebung der Bildung und des geselligen
Lebens, auf welch letztere in grösserem Zusammenhang zurückzukommen ist.
Das Hauptmittel für dıe Lösung der ländlichen Arbeiterfrage ım deutschen Nordosten und
zugleich für die Hebung der Landflucht ıst und bleibt aber de Anderung der Grund-
besitzverteilung, die „innere Kolonısatıon.‘ Denn die Abwanderungen
sind, wie Sering unanfechtbar nachgewiesen hat, auch im Nordosten selbst wieder am grössten
aus den Gebieten, wo der Grossgrundbesitz am meisten vorherrscht, und nur eine einschneidende
Änderung der Grundbesitzverteilung kann hier Wandel schaffen.
Eine solche ist vor allem durch de Ansıedlungskommission in den Provinzen
Posen und Westpreussen und daneben, aber ın weit geringerem Masse, durch de Generalkom-
missionen in allen östlichen Provinzen Preussens schon in einem gewissen Umfang bewirkt
worden. Durch letztere sind bis Ende 1910 ım ganzen 16 859 Rentengüter mıt 193 386 ha gebildet
worden, davon 14 048 mıt 172 901 ha ın den 6 östlichen Provinzen. Von letzteren sınd 11 129
(79,3 %) neue Stellen, 2 917 (20,7 %) durch Zukäufe spannfähig gemachte. Dazu kommen 18 127
Stellen mit 265 249 ha, welche von der Ansıiedelungskommission bis Ende 1910 geschaffen worden
sind. So ergibt sich im ganzen eine Vermehrung des Kleingrundbesitzes ın den 6 östlichen
Provinzen Preussens um 32 175 Stellen und 438 150 ha. Das ıst etwa das Vierfache der Fläche,
welche die spannfähigen Bauerngüter im freihändigen Verkehr mit dem Grossgrundbesitz nach
der Bauernbefreiung von 1816—1859 verloren haben, aber weit weniger als der Gesamtverlust
der Bauern in den alten Provinzen Preussens ım Laufe des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die
Bauernbefreiung, der auf 800 000 bıs 1000000 ha geschätzt wırd.
Aber ein sehr grosser Teil auch der unter Vermittlung der Generalkommissionen gebildeten
Rentengüter entfällt ebenfalls auf die Ansiedelungsprovinzen Posen und Westpreussen, nämlıch
5 543 mit 56 841 ha. Auf diese beiden Provinzen entfallen also von der Gesamtsumme von 32 175
Stellen allein 23 670 mit 322 090 ha, auf den ganzen übrigen Osten dagegen nur 8 505 mit 116 060 ha.
Darunter sind nur 6 749 neue Ansiedelungen, davon nur 5 270 mit mehr als 5ha, während nach der
Berufszählung von 1907 dort 10 843 landwirtschaftliche Grossbetriebe (mit mehr als 100 ha) be-
stehen. Es entfällt also im übrigen Osten, abgesehen von Posen und Westpreussen, auf 2 grosse
Güter immer erst 1 neues bäuerliches Rentengut — also wirklich, wie Sering sagt, ein „recht
dürftiger Anfang‘“.
Grösser sind allerdings die Verschiebungen, wenn die Veränderungen durch freihändigen
Verkauf dazu genommen werden: es ergibt sich dann von 1895—1907 in den 5 anderen östlichen
Provinzen Preüssens eine Abnahme der Fläche der Grossbetriebe um 296 000 ha = 7,8 % und Ihrer
Zahl um 342 = 5,1 %, in Posen und Westpreussen aber eine Abnahme der Fläche um 321 000 ha =
17,6 % und der Zahl um 617 = 12,6%. Nur in Posen und Westpreussen ist also mit
Einrechnung der freien Veränderung bis jetzt bereits eine stärkere Einschränkung des Herrschafts-
gebietes des Grossgrundbesitzes erfolgt, aber es ist auch hier noch immer sehr bedeutungsvoll.
„Jedenfalls ist, wie Sering sagt, das östliche Deutschland noch weit von einer Grundbesitzverteı-
lung entfernt, welche es vor Entvölkerung zu schützen und die deutsche Kultur dauernd zu er-
halten vermag.‘
Ganz besonders dürftig aber ist bis vor kurzem die Verwendung der inneren Kolonisatıon
zur Lösung der Arbeiterfrage durch Ansässigmachung der Landarbeıter gewesen.
Und doch liegt in der Hauptsache in ihr allein die Möglichkeit einer positiven Lösung der länd-