16 © J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation.
Haushaltungsschule des Berliner Lettehauses in Deutschland bekannt gemacht und von da
besonders in Baden eingeführt wurde.
Vielleicht noch wichtiger aber als diese verschiedenen Arten der nicht wirtschaftlichen
materiellen Fürsorge — und die eigentliche Domäne der ländlichen Wohlfahrtspflege — ist die
ımmaterielle Fürsorge. Denn Mangel an Fürsorge, an Wohlfahrt, auf diesem Gebiete
der immateriellen Bedürfnisse ist auch und vielleicht am meisten Ursache der Landflucht. Es gilt
dem Land und der ländlichen Bevölkerung zu bringen, was dıe neue Kulturentwickelung in dieser
Beziehung darbietet, und zu erhalten, was von der alten noch Gutes vorhanden ist —damit das Land
ihr nicht nur eine Stätte der Arbeit, sondern auch der Bildung und Erholung, der Freude sein kann.
Diese Aufgabe besteht nach dem früher Gesagten ım allgemeinen ausser bei den Landarbeitern im
Nordosten vor allem in den rein bäuerlichen Gebieten, also im Nordwesten und Südosten, weniger in
den Freiteilbarkeitsgebieten des Südwestens. Die Mittel, welche hier in Frage konunen sind:
1. die Fortbildungsschule; sie „erstrebt den Ausbau und Abschluss der Volks-
schulbildung im Rahmen beruflicher Heimatkunde, ım Dienste der Wohlfahrtsarbeit“ (Sohnrey).
Die Kosten müssen Staat, Kreis und Gemeinde tragen, auch hier liegt also eigentlich nicht Wohl-
fahrtspflege in unserem engen Sinne vor. Wohl aber ıst dies der Fall bei den ländlichen Volks-
hochschulen. Solche haben wır bis jetzt in Deutschland nur drei in Schleswig-Holstein — eine
Nachahmung der ländlichen Volkshochschulen in Dänemark, welche sich hier seit mehr als 60
Jahren ausgezeichnet bewährt und eine grosse Hebung und Entwicklung der Landwirtschaft und
der ländlichen Bevölkerung bewirkt haben. Ferner ist von Wichtigkeit und halb ideeller, halb
materieller Natur:
2. derHandfertigkeitsunterricht. Er ıst besonders für die Erhaltung und Neube-
lebung der Volkskunst von Bedeutung: es gilt die verlorene Handgeschicklichkeit wıeder zu
beleben. Er ist mit der Volksschule zu verbinden und schon bei den kleinen Kindern ım Kinder-
garten, bei den Schulpflichtigen besonders im Schulgarten zu betreiben.
3. Auch der Bildung und Belehrung, aber zugleich auch der Erholung und dem Vergnügen
dienen de Gemeindeabende — ein Hauptgebiet der reinen eigentlichen Woh’fahrtspflege.
Ihre Veranstaltung ıst vor allem Aufgabe des Geistlichen unter Mitwirkung der anderen Angehörigen
der gebildeten Klassen auf dem Lande und in der Stadt. Sollen die im Gemeindeabend empfan-
genen Anregungen nachwirken, so sind weiter notwendig:
4. Volks- resp. Dorfbibliothek und Lesezimmer, sowie Gemeindezel-
tungen. Dazu kommen
5. Dorfmuseen, von besonderer Bedeutung für die Erhaltung der guten alten Sachen,
des Hausrats der Väter, am Ort. Ferner Kunstausstellungen, bei denen es sıch Insbe-
sondere um gute Reproduktionen für einen künstlerischen Wandschmuck handelt. Ebenso dient
der Bildung und vor allem der Erheiterung
6. das Dorftheater durch Aufführung alter und neuer guter Volksstücke. Es darf
aber unter keinen Umständen eine Schaustellung für Fremde, für die städtische Bevölkerung, Ins-
besondere Sommerfrischler, werden.
7. Ein gleiches gilt von den Tändlichen Festen (Ernteiesten etc.) mıt alten Bräu-
chen. Insbesondere sind sogenannte ‚Trachtenfeste” ın der Regel etwas Verkehrtes, nıcht nur,
wenn sie ın der Stadt abgehalten werden, sondern auch auf dem Lande. Die ganze Trachten-
bewegung, welche durch ‚Trachtenvereine‘ besonders in Baden und Württemberg, aber auch
in Bayern, mit einem gewissen Erfolg aufrecht erhalten wird, ist überhaupt nicht unter einem ein-
heitlichen Gesichtspunkt zu beurteilen, und ihre Erfolge sind auch trotz aller aufgewandten Mühe
sehr verschiedenartig.
8. Notwendiger Mittelpunkt für alle diese, teils der Bildung, teils der Erholung und dem
Vergnügen dienenden Veranstaltungen ist das Gemeindehaus, das neben alkoholireiem
Versammlungsraum, der zugleich Lesezimmer und Bibliothek sein kann, auch Mittelpunkt
der hygienischen und Krankenfürsorge ist, die Kinderkrippe, die Wohnung der Gemeindeschwester
und das Dorfbad enthält. Seine Schaffung ist praktisch die Hauptauf-
gabe der Bewegung und der Vereine für ländliche Wohlfahrts-