356 Aebersicht der politischen Eutwickelung des Jahres 1902.
Parlament vertretenen Anschauungen entgegengesetzt ist. — In der
auswärtigen Politik pflegt Italien neben seinem Bündnis mit
Deutschland und Österreich-Ungarn die Beziehungen zu Frank-
reich; in der Kolonialpolitik sucht es seine Kolonie Erythräga mit
Erfolg wirtschaftlich nutzbar zu machen und durch gutes Ein-
vernehmen mit Abessinien und England zu sichern. Um die Küste
der Kolonie zu schützen, war eine Bestrafung von arabischen See-
räubern nötig, die ohne erhebliche Hindernisse vollzogen werden
konnte.
Die Kurie hat das 25. Jahr der Regierung Leos des XIII.
mit großem Gepränge gefeiert und zahlreiche Pilgerzüge in Rom
empfangen können; nach außen ist sie namentlich durch die Be-
kämpfung der christlichen Demokratie, der protestantischen Propa-
ganda in Rom und des italienischen Ehescheidungsgesetzes hervor-
getreten. Gegen die französische Gesetzgebung hat der Papst keinen
Protest erhoben, obwohl es ihm vom französischen Klerus nahe-
gelegt worden ist.
Die Schweiz hat zeitweilig die allgemeine Aufmerksamkeit
durch einen diplomatischen Konflikt mit Italien auf sich gezogen
(S. 258), der aber unter deutscher Vermittlung schnell wieder bei-
gelegt worden ist. Das am Jahresende eingebrachte Gesetz gegen
die Verherrlichung von Verbrechen ist allgemein als nachträgliche
stillschweigende Billigung der Forderung des italienischen Gesandten,
die den Bruch veranlaßt hatte, angesehen worden. — Die Erneue-
rung des Nationalrats hat die bisherige Mehrheit bestätigt. Eine
Enttäuschung bei den Wahlen haben die Sozialdemokraten erlitten,
die trotz ihrer einheitlichen Organisation und trotz großer An-
strengungen im Wahlkampfe nur wenige Mandate erhalten haben.
Wie alle Staaten war auch die Schweiz mit der Frage über die
Erneuerung der Handelsverträge beschäftigt, und die Bundes-
versammlung hat einen Zolltarif angenommen, der einen stärkeren
schutzzöllnerischen Charakter trägt als der frühere.
In Belgien haben die Sozialdemokraten versucht, das all-
gemeine und gleiche Wahlrecht mit Hilfe des allgemeinen Aus-
standes, ja der Revolution zu erzwingen, aber das Mittel hat sich
als durchaus unpraktisch erwiesen. Der Angriff ist blutig ab-