140 8 19. Staatsfunktionen. Allgemeines.
dem Richter, die Entscheidung des einzelnen Falles beim
Mangel unmittelbar zutreffender Rechtsvorschriften durch
Auslegung (extensive und restriktive Interpretation, argu-
mentatio a contrario), auf dem Wege rechtsähnlicher
Anwendung (Gesetzesanalogie) oder unter Zugrundelegung
der das ganze Rechtsgebäude beherrschenden Gedanken
(Rechtsanalogie) zu finden (L. 1 8 5).
Streitig ist, wie die Grenze zwischen der an Rechtsnormen
gebundenen und der freien richterlichen Tätigkeit gezogen werden
soll. Die Anhänger der Freirechtsschule verlangen die
möglichste Beschränkung der Gesetzgebung und die Gestattung der
freien Rechtsfindung durch den Richter auf Grund der Interessen-
abwägung (L. I § 5 12). Das neue deutsche Recht hat einen
mittleren Weg eingeschlagen: trotz positiver Vorschriften ist dem
richterlichen Ermessen ein weites Feld eingeräumt, z. B. im
St GB. in der Ueberlassung der Feststellung des Strafmaßes
innerhalb gewisser Grenzen, im BEG. mittels der Hervor-
hebung des Grundsatzes von Treu und Glauben (88 133, 157,
242), der Berücksichtigung der „Umstände des Falles“ (88 151,
328, 612), der „guten Sitten“ (§8 822, 826), in den Pro-
zessen durch Anerkennung der freien Beweiswürdigung (3P.
8§8 286, 287; StpO. § 260). Besonders weit geht Art. 1 II
des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs, das mangels eines gesetz-
lichen Anhalts den Richter anweist, „nach der Regel zu ent-
scheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde“.
Keinenfalls darf der Richter wegen Fehlens einer ein-
schlägigen Rechtsnorm die Entscheidung ablehnen. In Code civil
Art. 4 ist dies ausdrücklich als Rechtsverweigerung gekenn-
zeichnet: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte de si-
lence, de Tobscurité ou de ’insuffisance de la loi, pourra etre.
poursuivi comme coupable de déni de justice“. Nach deutschem
Recht gibt es keine besondere Bestrafung der Rechtsverweigerung;
in Betracht kann vielmehr nur Bestechung oder Rechtsbeugung
kommen (StGB. 88 334, 336). Wohl aber kann die Rechts-
verweigerung den Richter — an dessen Stelle nach Reichsrecht
(ReichsamtshaftungsG. vom 22. Mai 1910) und preußischem
Recht (Pr Amtshaftungsgesetz vom 1. August 1909) der Staat
tritt — zivilrechtlich haftbar machen, auch bei Urteilen, bei
denen grundsätzlich eine Haftung nur bei strafbarer Pflicht-
verletzung eintritt (BB. 8 839 II, 2).
J. Die Verwaltung
ist teils gebundene, teils freie Staats-
tätigkeit.
Verwaltung im weiteren Sinne ist staatliche Be-
tätigung, die nicht Gesetzgebung oder Rechtsprechung ist
(S. 162). Diese Betätigung erfolgt: