§ 28. Die rechtliche Natur des Deutschen Reichs. 205
die wahre Souveränität zugesprochen. Es kann durch
Majoritätsbeschluß seine Zuständigkeit auch auf das aus-
dehnen, was den Einzelstaaten an Herrschaftsrechten ver-
blieben ist, und eine jede Verfassungsänderung bedeutet
eine von einem höheren Organ ausgehende, den
Einzelstaat auch wider seinen Willen bindende
Rechtsnorm. Die Bestimmung des Art. 78 12, daß
Verfassungsänderungen als abgelehnt gelten, wenn sie
im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich haben, hat ledig-
lich den Sinn einer politischen Sicherung.
Unrichtig ist daher die besonders von Jagemann aufgestellte
Ansicht, daß die Souveräne der einzelnen Bundesstaaten — z. B.
um die Befugnisse des Reichstags zu vermindern oder das
Reichstagswahlrecht zu beschränken — in der Lage wären, das
von ihnen durch Verträge errichtete Reich aufzulösen und durch
einen neuen auf andere Grundlagen (d. h. eine neue Verfassung)
gestellten Bund zu ersetzen. Zu einer solchen Auflösung des
Reichs als einer Verfassungsänderung wäre vielmehr die Zu-
stimmung des Reichstags unerläßlich. Überdies ist der dem
Reiche zugrunde liegende Bund nicht von den Souveränen für
ihre Person, sondern als Oberhäuptern ihrer Staaten und unter
Mitwirkung der gesetzgebenden Faktoren derselben geschlossen wor-
den (S. 199); zu einem contrarius consensus bedürften die Sou-
veräne daher ebenfalls der Ermächtigung durch die Einzel-
andtage.
J. Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen
vor (NV. Art. 2). Dieser Satz ist lediglich eine Folge
der Bestimmung des Art. 78, wonach der Wille des
Reichs gegenüber dem der Einzelstaaten der höhere ist;
er ergibt aber zugleich die Befugnis des Reiches, Rechts-
normen mit unmittelbarer, verbindlicher Kraft für
die Untertanen der Einzelstaaten zu erlassen.
d. Das Reich hat eigene Organe (Bundesrat,
Reichstag), welche seinen Willen zum Ausdruck bringen.
Dieser Wille ist nicht gleichbedeutend mit der Summe
der Willen der Einzelstaaten, und die einzelstaatlichen
Organe sind nicht imstande, die Organe des Reichs zu
ersetzen. Ein in allen Staaten übereinstimmend erlassenes.
Landesgesetz kann deshalb niemals Reichsgesetz werden,
und umgekehrt wird ein Reichsgesetz dadurch noch nicht
aufgehoben, daß die Staaten untereinander übereinkom-
men, es außer Wirksamkeit zu lassen.