8 35. Der Reichstag. 255
Die Auflösung des Reichstags während einer
Legislaturperiode erfordert einen Bundesratsbeschluß un-
ter Zustimmung des Kaisers (Art. 24). Binnen 60 Tagen
nach der Auflösung müssen die Wähler, binnen 90 Tagen
der Reichstag versammelt werden (Art. 25).
Bei einer Auflösung endet die Legislaturperiode; der
Reichstag muß neu gewählt werden. Mit der Schließung
endet die Sitzungsperiode; der Reichstag muß sich nach der Wieder-
berufung von neuem „konstituieren“. Alle Geschäfte, insbeson-
dere auch die Beratung nicht völlig erledigter Gesetzentwürfe,
müssen von neuem angefangen werden (sog. Diskontinuitä,).
Bei der Beratung der Reichsjustizgesetze wurde deshalb die
Reichsjustizkommission zur Fortsetzung der Verhandlungen auch
nach Schluß der Reichstagssession durch RG. vom 23. Dezember
1874 besonders ermächtigt; vgl. ferner RG. vom 2. Juni 1910
(Forttagung der Kommissionen für die Entwürfe des G., der
StPO. und der N.). Dagegen gilt für die Vertagung
der Grundsatz der Kontinuität, d. h. sie bewirkt keine Unter-
brechung, sondern nur ein Ruhen der Reichstagsverhandlungen.
Die Reichstagskommissionen können also ihre. Sitzungen fort-
setzen, und während der Vertagung gelten die Privilegien der
Reichstagsabgeordneten (z. B. betreffs der Verhaftung, S. 256)
fort, auch die Freifahrtscheine (S. 257).
2. Der Reichstag regelt seinen Geschäftsgang
und seine Disziplin durch eine Geschäfts—
ordnung (Art. 27).
Geschäftsordnung vom 12. Juni 1868 mit zahlreichen Er-
gänzungen. Über die Stellung des Reichstags im Grundbuch-
und Zivilprozeßrechte vgl. L. III Anh. II, Z. II Anh. IVI.
3. Der Reichstag beschließt, nachdem die itio in
partes für ihn beseitigt ist (S. 248), durch absolute
Mehrheit der anwesenden Abgeordneten; jedoch ist
hier, anders als beim Bundesrat, als Voraussetzung der
Beschlußfähigkeit (Quorum, S. 243) Anwesenheit der
Mehrheit der Mitglieder (also mindestens 199) erforder-
lich (RV. Art. 28). 3
a. Die Entscheidung der Frage, ob der Reichstag beschluß-
fähig ist, liegt lediglich dem Reichstage selbst ob (streitig). Nach
GeschO. § 54 wird die Beschlußfähigkeit vermutet. Z
Es wird also auch bei offenbarer Beschlußunfähigkeit so
lange verhandelt und abgestimmt, bis ein Abgeordneter die
Beschlußfähigkeit anzweifelt.
8. Gesetzentwürfe und Anträge des Bundesrats werden
grundsätzlich in drei Beratungen (a. allgemeine Diskussion
und Beschlußfassung über Kommissionsberatung; b. Einzeldis-
kussion, Abänderungsvorschläge und Abstimmung über jeden ein-
Heilfron, Staats-- und Verwaltungsrecht. 18