Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

8 36. Anh. z. 8 35. Die polit. Parteien im Reichstag. 259 
lands, bezüglich der inneren Politik von dem Streben um die 
Festhaltung und Fortbildung der im Revolutionsjahre errun- 
genen Volksfreiheiten erfüllt. In jener Richtung traten Groß- 
deutsche (Einbeziehung Osterreichs) und Kleindeutsche (Einigung 
unter Preußen, S. 192), in dieser Konservative und Liberale als 
führende Parteien einander gegenüber. 
Nachdem die Einigung gelungen, vollzog sich die weitere 
parlamentarische Entwickelung zunächst in dem Kampfe zwischen 
diesen beiden entgegengesetzten Weltanschauungen. Den beiden, 
in mehrere Spielarten zerfallenen Hauptparteien der Konser- 
vativen und Liberalen gesellten sich seit den 70er Jahren 
zwei neue hinzu, die durch besondere politische Ziele zusammen- 
ehalten werden: das die katholischen Interessen vertretende 
Bentrum und die revolutionäre Arbeiterpartei der Sozial- 
demokraten. 
Diese vier großen politischen Parteien sind im folgenden 
in ihrer Entwickelung dargestellt (unten 2). Es wird sich 
hierbei zeigen, daß mindestens bei den Konservativen und den 
Liberalen die sie zusammenfassenden politischen Gedanken nicht 
so stark waren, eine aus wirtschaftspolitischen Gründen er- 
folgende Zersetzung zu hindern. Seit Ende der siebziger Jahre 
hat vielmehr die Wirtschaftspolitik einen solchen Einfluß er- 
langt, daß eine Parteibildung, teils in den Parlamenten selbst, 
teils in „Bünden“ außerhalb derselben lediglich unter diesem 
einseitigen Gesichtspunkt erfolgt ist. Auch diese Bünde sind 
als zum Verständnis der Entwickelung der parlamentarischen 
Parteien dienend hier zu erwähnen (unten 3). 
2. Entwicklungsgeschichte der politischen 
Parteien. 
a. Die Konservativen.“) 
a. Die konservative Weltanschauung hat sich sogleich nach 
den Ereignissen von 1848 in einer Partei keisalhiltert. Sie 
gründete in der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung ein 
Organ, das ihre Grundanschauungen in der Oeffentlichkeit ver- 
trat („Kreuzzeitungspartei“): Stärkung des Königtums und seiner 
Stützen: des Adels und der Armee, Rückwärtsrevidierung der 
Verfassung, Stützung der Kirche, Betonung der landwirtschaft- 
lichen Interessen und des preußischen Nationalstaats. Ihre ersten 
Führer waren General Leopold v. Gerlach (1790—1861, 
Generaladjutant Friedrich Wilhelms IV. und Führer der von 
den Gegnern als „Kamarilla“ bezeichneten reaktionären Hof- 
partei), sein Bruder, der Jurist Ernst Ludwig v. Gerlach 
(1795—1877), Friedrich Julius Stahl (1802—1861, jüdi- 
scher Abkunft, seit 1840 Professor der Rechtsphilosophie, des 
Staats= und Kirchenrechts in Berlin, der der, konservativen 
  
*) Konservatives Hand buch (4. A. 11); Meinecke, 
Weltbürgertum und Nationalstaat (2. A. 11); v. Petersdorff, 
Kleist-Retzow (07); Stillich, D. polit. Parteien I1 (08).
	        
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