44 8 7. Die Rechtfertigung des Staates.
8 7. Die Rechtfertigung des Staates.
(Theorien über den Rechtsgrund des Staates).
a. Uebersicht.
1. In § 6 war die Frage zu beantworten: was ist
der Staat, was ist sein Wesen? Hier handelt es sich um
die weitere Frage: weshalb bestehen Staaten, was
ist der innere rechtfertigende Grund ihres Be-
stehens und der staatlichen Zwangsgewalt, die sich in der
Wehrpflicht, der Steuerpflicht, dem Verwaltungszwang
usw. äußert? «
Damit nicht zu verwechseln sind die unten §8 8, 9 zu
beantwortenden Fragen nach dem obersten Zweck und nach
dem geschichtlichen Werden (der Entstehung) des Staates.
Auch diese Frage ist seit Jahrtausenden gestellt und
im Laufe der Zeit ganz verschieden beantwortet worden.
Diese Fragestellung und Beantwortung geschah aber nicht
aus rein theoretischem Interesse. Vielmehr wurden von
den Vertretern der verschiedenen Theorien über den
Staatsgrund wichtige, für die praktische Gestaltung des
Staatswesens maßgebende Folgerungen gezogen. Die Ge-
schichte dieser Staatstheorien gibt die Grundlagen der ge-
samten politischen Entwicklung der Kulturstaaten wieder.
Die Staatstheorien wurden in den bewegten Zeiten, in
denen der Staatsbau revolutionären Erschütterungen aus-
gesetzt war, die Kristallisationspunkte, um die sich die
Reformbestrebungen gruppierten.
2. Die gegensätzlichen Ideen, auf denen sich die
Theorien über den Staatsgrund aufbauen, lassen sich auf
die Schlagworte: Individualismus (oder Egois-
mus) und Sozialismus t(oder Altruismus) zurück-
führen.
Der Individualismus („Freiheitsprin-
zip“) geht davon aus: der Naturmensch ist frei; erst die
Kultur unterwirft ihn der staatlichen Ordnung. Diese
muß sich daher mit solchen Beschränkungen der natür-
lichen Freiheit begnügen, die zur Aufrechterhaltung der
staatlichen Ordnung unentbehrlich sind.
Der Sozialismus„Ordnungsprinzip“h be-
ruht umgekehrt auf der Anschauung, daß der Mensch schon
von Natur aus und mit seiner Geburt Staatsangehöriger