Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

54 § 8. Der Zweck des Staates. 
Schon Plato und Aristoteles erblickten in der Er- 
reichung des sittlichen Ideals den Hauptzweck des Staates. Zur 
vollen Entwicklung gelangte die ethische Theorie durch Hegel 
1770—1831; Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820), 
der den Staat geradezu für die Objektivation der sittlichen 
Idee erklärte. Eine Abart dieser Theorie ist die in neuerer Zeit 
besonders von Friedrich Julius Stahl (S. 259) ver- 
tretene Auffassung, daß der Zweck des Staates die Verwirklichung 
der Lehren des Christentums ist cchristlicher Staat). 
Der Begriff des Sittlichen ist innerlicher Natur, daher den 
äußeren Machtmitteln des Staates unzugänglich; er ist ferner 
viel zu unbestimmt und von den Anschauungen des einzelnen 
abhängig, als daß er eine Richtschnur abzugeben imstande wäre. 
b. Die Wohlfahrts= oder Nützlichkeits- 
theorie (eudämonistisch-util itarische The- 
orie) 
bezeichnet als Zweck des Staates den gemeinen 
Nutzen, die Wohlfahrt der Gesamtheit und der einzelnen. 
Diese Lehre findet sich schon bei Aristoteles (der 
Staat ist da „riod # eza“) und bei Cicero (De legibus 3, 3, 8; 
„Salus populi suprema lex esto“) und hat bei den Naturrechtlern 
(so besonders Christian v. Wolff, S. 51) ihre volle Aus- 
bildung erhalten; sie ist auch im Eingang zur NV. (S. 212) als 
einer der Zwecke bezeichnet, die zur Gründung des Deutschen 
Reiches geführt haben. Aus den Worten „zur Fllege der Wohl- 
fahrt des deutschen Volkes“ am Eingange der RV. hat man 
übrigens die Befugnis des Deutschen Reiches zum Erlasse der 
sog. sozialpolitischen Gesetze gefolgert (S. 375). 
Die Wohlfahrtstheorie krankt gleich der ethischen Theorie 
(ob. a.) an der Unsicherheit des Begriffs der öffentlichen Wohl- 
fahrt. Sie ist im Laufe der Jahrhunderte von allen politischen 
Systemen zur Begründung herangezogen worden, ebenso vom 
Absolutismus wie vom „aufgeklärten“ Absolutismus Friedrichs 
des Großen und Josephs II., wie von den Vertretern der reinen 
Volksherrschaft (Art. I der französisch-jakobinischen Verfassung 
von 1793: „Le but de la société est le bonheur commun“). Sie 
hat vor allem (Just i. Grundsätze der Polizeiwissenschaft, 1756) 
zur wissenschaftlichen Begründung des „Polizeistaates“ ge- 
dient, d. h. derjenigen Regierungsform des 18. und 19. Jahr- 
hunderts, bei der die Staatsregierung im behaupteten Interesse 
der allgemeinen Wohlfahrt sich für berechtigt hielt, alle Einzel- 
heiten des Lebens der Untertanen zu regeln. 
8. Limitierende Theorien (die Rechts- 
theorie). , 
Während die unter a besprochenen Theorien eine 
allgemeine Formel für den Staatszweck suchen, beschrän- 
en die limitierenden Theorien ihn auf einen bestimmten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.