Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

§ 8. Der Zweck des Staates. 55 
Tätigkeitsbereich, in der Regel auf die Wahrung von 
Sicherheit, Freiheit und Recht. 
Der Staat hat darnach (objektiv) das Recht zu schaf- 
fen und zu hüten und damit die Sicherheit zu gewähr- 
leisten. Er hat ferner (subjektiv) die Freiheit des ein- 
zelnen zu schützen, aber nicht nur gegen die Angriffe 
Dritter. Vielmehr hat sich der Staat selbst jedes Ein- 
greifens in die individuelle Freiheit zu enthalten. 
Die Hervorhebung des Rechtsschutzes als des alleinigen 
oder vorwiegenden Staatszweckes erfolgt als Reaktion gegen 
die Bevormundung durch den Polizeistaat. Der „Rechts- 
staat“ ist zuerst von dem englischen Philosophen Locke (1632 
bis 1704), dann vor allem von Kant (1724—1804: „Der 
Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter 
Rechtsgesetzen zum Schutze der Rechte eines jeden“) wissenschaft- 
lich begründet worden. Diese Theorie bildet die Grundlage 
des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus des 19. 
Jahrhunderts. Dieser verwirft jede staatliche Bevormundung als 
Eingriff in die persönliche Freiheit des Individuums, und be- 
schränkt den Staat auf die Schaffung rechtlicher Grundlagen, 
auf denen der einzelne im freien Spiel der Kräfte sich in Ruhe 
und Sicherheit fortentwickeln kann („laisser faire, laisser aller“, 
sog. Manchestertum, benannt nach der von Manchester 
ausgegangenen Freihandelsschule, Antikornzolliga, 1839; Cob-- 
den und John Brightj; vgl. H. 1 8 2b 4aa). 
Die Lehre vom Rechtsstaat hebt ganz richtig einen der 
wichtigsten Staatszwecke hervor. Es ist aber unrichtig, in der 
Rechtswahrung den alleinigen Staatszweck zu finden. Unzweifel- 
haft ist z. B. die Sicherung des Staates nach außen hin als 
einer der wichtigsten Staatszwecke zu bezeichnen, zu dessen Er- 
reichung der Staat auch nach innen hin sich betätigen muß 
(Wehrpflicht, Bestellung der Organe, Bau von Kriegshäfen und 
Festungen). « . -«. 
Übrigens bezeichnet man mit Rechtsstaat heute viel- 
fach nicht nur den Staat im Sinne einer auf den Schutz und 
die Verwirklichung des Rechts gerichteten Anstalt, sondern auch 
im Sinne von Verfassungsstaat, d. h. derjenigen Staats- 
form, bei der die Ausübung der Staatsgewalt gegenüber den 
Untertanen genau umschrieben ist. 
2. Die relativen Zwecktheorien CVer- 
einigungstheorien) 
leugnen die Möglichkeit oder mindestens die Notwen- 
digkeit der Aufstellung allgemeingültiger Staatszwecke- 
Sie wollen diese für jeden Staat aus dessen jeweiligen 
Bedürfnissen entnehmen und danach die Richtung seiner 
Politik bestimmen. «
	        
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