Full text: Das öffentliche Recht des Deutschen Reichs. I. Teil. Lehrbuch des Staats- und Verwaltungsrechts. (1)

60 8 9. Entstehung und Untergang der Staaten. 
8. Auch in heutiger Zeit vollzieht sich die Neu- 
bildung eines Staates als tatsächlicher, nicht als. 
Rechtsakt. Denn das für den Staat maßgebende Recht 
bildet sich erst in dem entstandenen Staate. 
Wenn z. B. die Großmächte mit der Türkei vereinbaren, 
daß aus Stücken der bisherigen Türkei ein neuer Staat Al- 
banien gebildet werden soll, so ist das neue Fürstentum Al- 
banien nicht schon mit dieser Vereinbarung, sondern erst dann 
vorhanden, wenn innerhalb des abgesteckten Gebiets sich die- 
Staatsgewalt dauernd organisiert hat. Ist dies aber geschehen, 
so ist der neue Staat vorhanden, nicht kraft jener Verein- 
barung — die man zur Unterscheidung von dem zivilrechtlichen 
Vertrag als „Gesamtakt“ bezeichnet —, dergestalt, daß seine 
Staatsgewalt aus der bisherigen türkischen Gebietshoheit her- 
geleitet werden muß, sondern kraft der Tatsache, daß die drei 
Staatselemente sich zusammengefunden haben. 
Nicht anders ist es, wenn bei einer revolutionären Er- 
hebung ein Staatsteil (so besonders auf dem Balkan) sich zu 
einem selbständigen Staate entwickelt, oder wenn mehrere Staa- 
ten (wie dies bei Gründung des Norddeutschen Bundes und 
des Deutschen Reichs geschah) zu einem Bundesstaate zusammen- 
treten oder wenn umgekehrt ein Einheitsstaat (Brasilien, 1891) 
sich in mehrere Staaten teilt, die zusammen wieder einen 
Bundesstaat bilden. In allen diesen Fällen sind es nicht die 
diesen Veränderungen zugrunde liegenden Rechtsakte (z. B. bei 
Gründung des Norddeutschen Bundes die Annahme der Bundes- 
verfassung in den Einzelstaaten, S. 196), die den Neustaat ins. 
Leben rufen; vielmehr schaffen sie nur die tatsächliche Möglich- 
keit der Entstehung des neuen Gemeinwesens. Vgl. unten S. 
204. 
a. Die Staatsgewalt im Neustaate ist hiernach stets 
originär, nicht derivativ, und der Neustaat tritt, da keine 
Nachfolge vorliegt, an sich nicht in die Rechte und Pflich- 
ten (besonders den Staatsgläubigern gegenüber) des 
Staates ein, aus dessen Gebiet er gebildet ist (anders 
beim vertragsmäßigen Erwerb. von Staatsgebiet, S. 63). 
b. Aus dem Umstande, daß die Staatenneubildung 
als ein tatsächlicher, nicht als Rechtsakt zu bewerten ist, 
folgt ferner, daß für die Entstehung des Staates die im 
Anfange des 19. Jahrhunderts viel erörterte Legitimi- 
tät, d. h. die Entstehung in Uebereinstimmung mit der 
bisherigen Rechtsordnung (S. 34) völlig bedeutungslos. 
ist. Das Legitimitätsprinzip ist im Interesse 
der Erhaltung der Dynastien als eine Art gegenseitiger 
Verbürgung des gegenwärtigen Besitzstandes aufgestellt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.