Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

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Fahnen aller Stadtviertel, an Zahl hundert und etwas mehr. Der Reihe nach 
zogen sie nach Neu-Lodi — die Bewohnerschaft von drei Torsprengeln schritt vor 
dem Wagen (Carrocium)#) einher, die übrige Menge folgte nach — bis vor den 
Palast des Kaisers. Sobald dieser hoch auf seinem Throne von ihnen erblickt 
wurde, stießen die Bläser, die auf dem Wagen standen, stärker in die ehernen 
Posaunen und hielten ihrem Stolze, der jetzt erstarb und hier zu Grabe getragen 
werden sollte, gleichsam die Leichenfeier; als der Klang verhallt war, wurden die 
Posaunen dem Kaiser dargereicht. Danach traten die Vorsteher der Stadtviertel 
einzeln heran, bekannten sich schuldig und übergaben der Reihe nach ihre Fahnen 
von der ersten bis zur letzten. 
Noch stand der Wagen, mit vielfachen Eichenbohlen eingefaßt, zum Kämpfen 
von oben herab hinlänglich ausgerüstet und mit Eisen sehr stark beschlagen; aus 
seiner Mitte erhob sich ein schlanker Mastbaum, von unten bis oben mit Metall, 
Riemen und Stricken aufs festeste umwunden. Auf der Spitze dieses Mastes ragte 
ein Kreuz empor, in dessen vorderem Teile der heilige Ambrosius abgebildet war, 
vor sich blickend und Segen spendend, wohin eben der Wagen sich wandte. Nach 
Übergabe aller Ehrenzeichen der Mailänder kam zuletzt dieser Wagen heran, um 
selbst auch sein Haupt zu neigen. Sein Lenker senkte kunstvoll jenes ganze Gerüst 
und jenen Mastbaum bis zur Erde, so daß wir, die wir neben dem Throne des 
Herrn Kaisers standen, den Zusammensturz des Gerüstes befürchtend, erbebten; 
doch der herabgesenkte Mastbaum fiel weder, noch erhob er sich, bis der Kaiser 
die Fransen der Fahne zusammenlas und den Wagen wieder aufrichten und als 
einen unterjochten dastehen ließ. Da fielen Krieger und Volk einmütig auf ihr 
Antlitz, wehklagten und flehten um Erbarmen. Als hierauf einer der Konsuln eine 
Trauerrede hielt, warf sich nach Schluß derselben die Menge abermals nieder, 
streckte die Kreuze, die sie trug, empor und flehte unter großem Klagegeschrei im 
Namen des Kreuzes um Gnade. Davon wurden alle, die es hörten, heftig bis zu 
Tränen gerührt; aber das Antlitz des Kaisers veränderte sich nicht. Zum dritten 
Male redete der Graf von Blandrate 2) als Fürsprecher für jene, seine früheren 
Freunde, und zwang alle zu Tränen, indem er selbst das Kreuz emporhielt und 
die ganze Menge mit ihm zugleich demütig bittend sich niederwarf; aber der 
Kaiser allein ließ sein Antlitz unbeweglich wie einen Stein. Darauf wurde vom 
Kölner Bischof die einfache Formel ihrer Unterwerfung abgefaßt und von ihnen 
mit einem unumwundenen Schuldbekenntnis beantwortet. Der Kaiser erwiderte 
ihnen auf ihr Flehen, was ihm ziemte, und versprach nach reiflicher Überlegung, 
im geeigneten Zeitpunkt Gnade zu üben; nachdem er sie damit entlassen, ließ er 
sie sich am folgenden Tage abermals sämtlich vorführen. Sie aber warfen in der 
Hoffnung auf Erbarmen die Kreuze, die sie in den Händen trugen, durch die 
Fenstergitter in die Kemenate der Kaiserin, da sie vor ihr Angesicht keinen Zutritt 
hatten. Als sie tags darauf vorgeführt wurden und wehklagten, so antwortete 
ihnen der Kaiser, er wolle den Anfang zugleich mit der Gnade und mit dem 
Gerichte machen; denn wenn nach der Gerechtigkeit verfahren werden sollte, so 
müßten sie alle das Leben verlieren; doch jetzt sei es nötig, der Gnade Raum zu 
) Der Carroccio (spätlat. carrocium) war der mittelalterliche Fahnenwagen der 
tallensschde Städte, auf dem das Hauptbanner in die Schlacht geführt wurde. Sein 
Verluft galt als unauslöschliche Schmach. 
*) Guido, Graf von Blandrate, früher Bürger von Mailand, hatte sich auf die Seite 
Friedrichs gestellt. 
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