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Fahnen aller Stadtviertel, an Zahl hundert und etwas mehr. Der Reihe nach
zogen sie nach Neu-Lodi — die Bewohnerschaft von drei Torsprengeln schritt vor
dem Wagen (Carrocium)#) einher, die übrige Menge folgte nach — bis vor den
Palast des Kaisers. Sobald dieser hoch auf seinem Throne von ihnen erblickt
wurde, stießen die Bläser, die auf dem Wagen standen, stärker in die ehernen
Posaunen und hielten ihrem Stolze, der jetzt erstarb und hier zu Grabe getragen
werden sollte, gleichsam die Leichenfeier; als der Klang verhallt war, wurden die
Posaunen dem Kaiser dargereicht. Danach traten die Vorsteher der Stadtviertel
einzeln heran, bekannten sich schuldig und übergaben der Reihe nach ihre Fahnen
von der ersten bis zur letzten.
Noch stand der Wagen, mit vielfachen Eichenbohlen eingefaßt, zum Kämpfen
von oben herab hinlänglich ausgerüstet und mit Eisen sehr stark beschlagen; aus
seiner Mitte erhob sich ein schlanker Mastbaum, von unten bis oben mit Metall,
Riemen und Stricken aufs festeste umwunden. Auf der Spitze dieses Mastes ragte
ein Kreuz empor, in dessen vorderem Teile der heilige Ambrosius abgebildet war,
vor sich blickend und Segen spendend, wohin eben der Wagen sich wandte. Nach
Übergabe aller Ehrenzeichen der Mailänder kam zuletzt dieser Wagen heran, um
selbst auch sein Haupt zu neigen. Sein Lenker senkte kunstvoll jenes ganze Gerüst
und jenen Mastbaum bis zur Erde, so daß wir, die wir neben dem Throne des
Herrn Kaisers standen, den Zusammensturz des Gerüstes befürchtend, erbebten;
doch der herabgesenkte Mastbaum fiel weder, noch erhob er sich, bis der Kaiser
die Fransen der Fahne zusammenlas und den Wagen wieder aufrichten und als
einen unterjochten dastehen ließ. Da fielen Krieger und Volk einmütig auf ihr
Antlitz, wehklagten und flehten um Erbarmen. Als hierauf einer der Konsuln eine
Trauerrede hielt, warf sich nach Schluß derselben die Menge abermals nieder,
streckte die Kreuze, die sie trug, empor und flehte unter großem Klagegeschrei im
Namen des Kreuzes um Gnade. Davon wurden alle, die es hörten, heftig bis zu
Tränen gerührt; aber das Antlitz des Kaisers veränderte sich nicht. Zum dritten
Male redete der Graf von Blandrate 2) als Fürsprecher für jene, seine früheren
Freunde, und zwang alle zu Tränen, indem er selbst das Kreuz emporhielt und
die ganze Menge mit ihm zugleich demütig bittend sich niederwarf; aber der
Kaiser allein ließ sein Antlitz unbeweglich wie einen Stein. Darauf wurde vom
Kölner Bischof die einfache Formel ihrer Unterwerfung abgefaßt und von ihnen
mit einem unumwundenen Schuldbekenntnis beantwortet. Der Kaiser erwiderte
ihnen auf ihr Flehen, was ihm ziemte, und versprach nach reiflicher Überlegung,
im geeigneten Zeitpunkt Gnade zu üben; nachdem er sie damit entlassen, ließ er
sie sich am folgenden Tage abermals sämtlich vorführen. Sie aber warfen in der
Hoffnung auf Erbarmen die Kreuze, die sie in den Händen trugen, durch die
Fenstergitter in die Kemenate der Kaiserin, da sie vor ihr Angesicht keinen Zutritt
hatten. Als sie tags darauf vorgeführt wurden und wehklagten, so antwortete
ihnen der Kaiser, er wolle den Anfang zugleich mit der Gnade und mit dem
Gerichte machen; denn wenn nach der Gerechtigkeit verfahren werden sollte, so
müßten sie alle das Leben verlieren; doch jetzt sei es nötig, der Gnade Raum zu
) Der Carroccio (spätlat. carrocium) war der mittelalterliche Fahnenwagen der
tallensschde Städte, auf dem das Hauptbanner in die Schlacht geführt wurde. Sein
Verluft galt als unauslöschliche Schmach.
*) Guido, Graf von Blandrate, früher Bürger von Mailand, hatte sich auf die Seite
Friedrichs gestellt.
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