Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

Sobald du antriffst weise Leute, 
Was dieses Traumgesicht bedeute: 
Du trugst zwei Lichter in der Hand; 
Die leuchteten weithin durchs Land 
Mit ihrem Scheine hell und klar. 
Gerad' so träumt' ich vor'ges Jahr 
Von einem Mann, — ihn sah ich blind 
In diesem Jahre, liebes Kind.“ 
Der Sohn sprach: „Ja, das ist ganz gut; 
Doch bändige ich nimmer meinen Mut 
Um eine solche Märe: 
Ein Feigling ich ja wäre!“ . ... 
„Mein Sohn, der Traum ist gar gering 
Vor dem, der weiter mich umfing. 
Nun höre von dem Schreckenstraum: 
Du warst gehenkt an einen Baum; 
Es mochte von den Füßen dein 
Zehn Schuh bis auf die Erde sein. 
Ein Rabe saß zu Häupten dir 
Und eine Krähe, glaube mir. 
Dein langes Haar zerzauset war: 
Da strählte dir's das Vögelpaar, 
Der Rab' zur rechten Hand, 
Die Krähe links gewandt. 
O Fluch, o Fluch dem Traume! 
O Fluch dem Galgenbaume! 
O Fluch dem Raben! Fluch der Krähn! 
Ich glaub' vor Kummer zu vergehn, 
Daß ich dich strenger nicht erzog, 
Es sei denn, daß der Traum mir log.“ 
„Ob dir auch, Vater, wiss' es, Christ! 
Da träumte alles, wie es ist, 
Mag's übel sein oder auch gut, 
Ich lasse nicht von meinem Mut, 
Und sollt's mir an das Leben gehn, 
Ich kann der Lust nicht widerstehn. 
Der güt'ge Gott walt', Vater, dein, 
Und auch der lieben Mutter mein; 
Mit euch und eurer Kinder Schar 
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Sei Gottes Segen immerdar. 
Gott nehm' uns all' in seine Pflege!“ 
Damit nun ritt er seiner Wege. 
Der Vater gab den Abschied ihm, 
Und fort eilt' er voll Ungestüm. — 
Euch alle seine Fahrten sagen, 
Das könnt' ich nicht in dreien Tagen, 
Und selbst in einer Woche Raum 
Würd' ich sie all erzählen kaum. 
Er kam zu einer Burg geritten. 
Der Burgherr war von wilden Sitten 
Und liebte steten Kampf und Streit. 
Dort fanden Aufnahm allezeit, 
Die da verstanden, kühn zu reiten 
Und lustig mit dem Feind zu streiten. 
Dem ward' er Knappe als Gesinde. 
Und rauben lernt' er gar geschwinde. 
Was auch ein andrer liegen ließ, 
In seinen Sack er alles stieß. 
Er schob alles da hinein; 
Kein Beutestück war ihm zu klein, 
Und keins war ihm zu schwer und groß. 
Ob es rauh war oder bloß, 
Ob es krumm war oder recht. — 
Das raubte alles Helmbrecht, 
Des alten Meiers Helmbrecht Kind. 
Er nahm das Roß; er nahm das Rind; 
Er ließ dem Mann nicht Löffels Wert; 
Er nahm das Wamms und nahm das 
Schwert; 
Er nahm den Mantel samt dem Rock; 
Er nahm die Geiß; er nahm den Bock; 
Den Widder nahm er mit dem Schaf: 
Dafür ihn Lohn dann bitter traf. 
Er zog den Rock dem Weibe 
Und selbst das Hemd vom Leibe, 
Das Unter= wie das Oberkleid. 
Das bracht' ihm später schweres Leid, 
Als ihn der Scherge machte zahm, 
Daß je so viel den Frau'n er nahm; 
Ja, das ist ganz gewißlich wahr!
	        
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