Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

— 12 — 
Zugtieren oder kleinerem Vieh), und es nimmt das ganze Haus die Sühne an: 
eine nützliche Einrichtung für das Gemeinwesen; denn doppelt gefährlich sind die 
Feindschaften, wo sie Hand in Hand mit der Freiheit gehen. Des Umgangs und 
der Gastlichkeit wartet kein Volk mit maßloserer Hingebung. Irgend einem Sterb- 
lichen den Eintritt in das Haus zu wehren, gilt als gottlos: nach bestem Ver- 
mögen setzt ihm ein jeder zum Willkommen eine Mahlzeit vor. Ist der Vorrat 
aufgezehrt, so weist der, welcher eben den Wirt machte, den Gastfreund zu einer 
anderen Herberge und begleitet ihn; uneingeladen treten sie in das nächste Haus. 
Auch tut das nichts: mit gleicher Freundlichkeit werden sie empfangen. Zwischen 
Bekannten und Unbekannten macht innerhalb der Grenzen des Gastrechts niemand 
einen Unterschied. Wenn der Fremde beim Abschied etwas verlangt, so ist es 
Sitte, es ihm zu gewähren; hinwiederum nehmen sie ebensowenig Anstand, sich 
etwas auszubitten. Sie freuen sich der Geschenke: aber weder rechnen sie, was sie 
geben, dem Empfänger an, noch lassen sie sich durch das, was sie empfingen, irgend 
verpflichten. Das freundliche Wohlwollen ist es, was die Gastfreunde verbindet. 
22. Gleich nach dem Schlafe, den sie meistens bis in den Tag hinein aus- 
dehnen, baden sie sich: öfter in warmem Wasser, da ja bei ihnen die meiste Zeit 
über Winter ist. Nach dem Bade nehmen sie Speise zu sich: jeder hat seinen ab- 
gesonderten Sitz, jeder seinen eignen Tisch. Dann gehen sie an die Geschäfte und 
nicht minder oft zum Gelage, immer bewaffnet. Tag und Nacht hintereinander 
sort zu trinken, ist für keinen ein Vorwurf. Zwistigkeiten, die bei ihrer Trunksucht 
natürlich häufig sind, verlaufen selten in Schimpfreden, öfter in Mord und 
Wunden. Doch auch über die Wiederversöhnung von Feinden, über den Schluß eines 
Ehebundes, über die Aufnahme von Fürsten, über Frieden endlich und Krieg rat- 
schlagen sie meistens beim Gelage, als ob zu keiner Zeit das Herz sich leichter zu 
geraden und einfachen Gedanken auftue, oder zu großartigen sich erwärme. Das 
Volk ohne Falsch und List eröffnet bei solcher Gelegenheit die Geheimnisse der 
Brust in freiem Scherz. So wird denn, was unverhüllt und offen als aller 
Meinung vorliegt, am folgenden Tage von neuem in Uberlegung genommen, und 
unverkümmert bleibt jeder Zeit ihre Geltung: sie beraten, wenn sie zur Ver- 
stellung unfähig sind; sie beschließen, wenn sie nicht irren können. 
23. Zum Getränk dient eine Flüssigkeit aus Gerste oder Korn zusammen- 
gebraut?) und gewissermaßen dem Weine ähnlich; die, welche dem Rheinufer zu- 
nächst wohnen, kaufen auch Wein. Die Speisen sind einfach: Feldfrüchte, frisches 
Wildbret oder geronnene Milch. Ohne Umstände, ohne feinere Würze vertreiben 
sie den Hunger. Gegen den Durst verfahren sie nicht mit gleicher Mäßigkeit. 
Wenn man ihrer Trunksucht nachgibt und ihnen vorsetzt, soviel sie verlangen, 
werden sie nicht minder leicht durch Laster als durch Waffen zu besiegen sein. 
24. Von Schauspielen haben sie nur eine Gattung, die bei jeder geselligen 
Zusammenkunft wiederkehrt: nackte Jünglinge, die darin ihr Kurzweil finden, 
sich in Sprüngen zwischen Schwerter und drohende Frameen zu werfen. Übung 
rief Kunst, Kunst Anmut hervor: nicht zum Erwerbe jedoch oder um Lohn: auch 
des verwegenen Scherzes einziger Preis ist das Vergnügen der Zuschauer. Würfel- 
spiel treiben sie wunderbarerweise nüchtern als ernsthafte Angelegenheit, so toll- 
kühn im Gewinnen und Verlieren, daß sie, wenn alles dahin ist, auf den letzten, 
1) Das ist das sogenannte Wergeld (wör — Mensch, Mann). 
2) Gemeint ist das Bier. Vom Met berichtet Tacitus nicht.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.