Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

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LVIII. De chenecruda1). So einer einen Menschen getötet hat und sein 
ganzes Hab und Gut dahin gab und nichts mehr besitzt, um dem Gesetz voll Ge- 
nüge zu leisten, so soll er zwölf Eideshelfer stellen, daß er weder über, noch unter 
der Erde mehr Vermögen habe, als von ihm schon gegeben worden sei. Darauf 
gehe er in sein Haus hinein, sammele aus jeder der vier Ecken Erde mit der 
Hand und trete alsdann auf die Türschwelle, und in die Wohnung zurückblickend, 
werfe er dann mit der linken Hand jene Erde rückwärts über seine Schulter auf 
seinen nächsten Verwandten?). Wenn nun Mutter und Brüder schon für ihn ge- 
zahlt haben, dann muß er die Erde auf seiner Mutter Schwester oder deren 
Söhne werfen und zwar auf drei von der Sippe der Mutter und drei von der 
Sippe des Vaters, die ihm am nächsten verwandt sind. Darauf soll er im Hemd, 
ohne Gurt und ohne Schuh, einen Stab in der Hand, über den Zaun springen, 
damit jene drei, was an dem Wergeld noch fehlt, oder die Buße, welche das 
Gesetz vorschreibt, bezahlen. Und dies sollen auch jene anderen drei von der 
väterlichen Sippes). 
I. Die Ladung vor Gericht. 1. So einer zum Gericht nach Königsrecht ge- 
laden ist und sich nicht stellt, so soll er schuldig sein, 600 Denare, das sind 15 
Solidi, zu zahlen). 
2. Wer aber einen anderen vor Gericht ladet und selbst nicht kommt, der 
soll, falls er nicht durch vollwichtiges Hindernis abgehalten war, dem Geladenen 
600 Denare, das sind 15 Solidi, zu zahlen schuldig sein. 
3. Und jener, der einen anderen vor Gericht ladet, soll mit Zeugen zu jenes 
Hause gehen und, falls dieser nicht daheim sein sollte, entweder die Frau oder 
irgend jemand von der Familie dieses Mannes ansprechen, daß sie ihm die 
Ladung vor Gericht kund tun. 
LVI. Über den, der sich weigert, zum Gericht zu kommen. So einer ver- 
achtet, zu Gericht zu kommen oder sich der Erfüllung dessen, was ihm die Rachine- 
burgen5) geurteilt haben, entzieht und sich weder zur Leistung der Buße#), noch 
zur Übernahme der Kesselprobe?), noch irgendwie zu dem, was das Recht fordert, 
1) Der Sinn des Wortes „chenecruda“ ist dunkel. « 
«)EinBeispielfürdieschöneBildlichkeitderaltgermanifchenRechtghandlungen,die 
sich ganz in althergebrachten Redewendungen und shmbolischen Handlungen bewegten. 
Ein Verstoß gegen solche Formsachen konnte den Verlust des ganzen Prozesses nach sich 
en. 
2) Die Aufbringung und Verteilung des Wergeldes, wie auch die Beteiligung an der 
Rache und dem Sühneverfahren zeigen, welche große Bedeutung die Sippe für das 
öffentliche Leben hatte. · 
4) Die Ladung des Angeklagten erfolgte nicht von Amtswegen durch das Gericht, 
sondern durch den Kläger. Um der Ladung größere Autorität zu verleihen, verschaffte 
sich der Kläger hierzu in späterer Zeit die Befugnis des Königs oder seines Stell- 
vertreters, des Gaugrafen; so geschah sie nach Königsrecht. 
5) Rachineburge bedeutet „Ratträger“; der erste Teil hängt vermutlich zusammen 
mit dem got. ragin — Rat (Reinhard), der zweite Teil mit got. bairan = tragen. Das 
Urteil wurde nach altgermanischer Gerichtsordnung von der Masse der Dingleute, dem 
Umstand, gefällt. Dabei machten besonders rechtskundige und angesehene Dingmänner in 
jedem Falle Vorschläge, was Rechtens war. Dieser Ausschuß des Umstandes hieß bei den 
Franken Rachineburgen, sonst auch wohl ésago (Gesetzsager, ewa — Gesetz); später sprach 
man von Urteilsfindern. 
*) Die Buße ist das vorhin erwähnte Wergeld. · 
7) Noch immer bildete das Gottesurteil ein wichtiges Mittel der Beweisführung; eine 
sehr häufige Form war die Kesselprobe. Der Angeklagte mußte, um seine Unschuld zu
	        
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