Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Erster Teil. Deutsche Geschichte bis 1648. (1)

Es lebte aber zu jener Zeit ein Priester mit Namen Anastasius, ein Mann 
von freier Geburt; der besaß durch Gnadenbriefe der Königin Chrodichilde ruhm- 
reichen Andenkens ein Grundstück. Diesen nun ging der Bischof öfters an und bat 
ihn demütiglich, er möchte ihm die Gnadenbriefe der genannten Königin geben 
und ihm die Besitzung abtreten. Da aber jener den Wunsch seines Bischofs zu er- 
füllen sich weigerte, da dieser ihn doch bald durch Schmeicheleien zu gewinnen, 
bald durch Drohungen zu schrecken suchte, ließ er ihn zuletzt wider seinen Willen 
nach der Stadt bringen, dort ruchlos festhalten, und befahl, ihm, wenn er die 
Scheine nicht herausgebe, alle mögliche Unbill anzutun und ihn Hungers sterben 
zu lassen. Dennoch sträubte sich jener mannhaft und lieferte die Urkunden nicht 
aus; denn es sei ihm besser, sagte er, daß er eine Zeitlang Hunger leide, als daß 
er seine Nachkommen für die Folge im Elend lasse. Darauf wurde er auf Geheiß 
des Bischofs den Schergen übergeben und sollte, wenn er die Gnadenbriefe nicht 
auslieferte, den Hungertod erleiden. Es war aber bei der Kirche des heiligen 
Märtyrers Cassius eine sehr alte und ganz verborgene unterirdische Kapelle, in der 
war ein großes Grabmal von parischem Marmor, in dem vor langen Zeiten ein 
Leichnam beigesetzt worden war. In dieses Grabmal nun wurde auf den Leichnam 
lebendig der Priester gelegt und mit dem Stein verdeckt, mit dem vorher der 
Sarkophag geschlossen war, während Wachen vor die Türe gestellt wurden. Die 
Schergen aber verließen sich darauf, daß der Stein auf ihm lag, machten sich, da 
es Winter war, ein Feuer an, bereiteten sich Glühwein und schliefen endlich be- 
rauscht ein. Der Priester jedoch rief wie ein anderer Jonas den Herrn um 
Barmherzigkeit an. Und da der Sarkophag geräumig war, wie wir gesagt haben, 
so streckte er, obgleich er sich nicht ganz umwenden konnte, doch seine Hände un- 
gehindert aus, wohin er wollte. Es ging aber von den Gebeinen des Toten, wie 
er selbst zu erzählen pflegte, ein Leichendunst aus, so fürchterlich, daß es ihm nicht 
nur die äußeren Sinneswerkzeuge, sondern auch die innersten Eingeweide zu- 
sammenzog. Und wenn er sich mit dem Mantel die Nasenlöcher zustopfte, so 
empfand er, solange er den Atem anhalten konnte, nicht den üblen Geruch, wenn 
er aber zu ersticken fürchtete und den Mantel nur ein wenig vom Gesichte nahm, 
so atmete er den schauerlichen Geruch nicht nur durch Mund und Nase, sondern 
auch sozusagen durch die Ohren ein. Endlich, um kurz zu sein, erbarmte sich die 
Gottheit selbst, wie ich glaube, seiner Not, er streckte die Hand nach der einen 
Seite des Sarkophags aus und ergriff einen Hebebaum, der, da der Deckel 
Raum ließ, zwischen diesem und dem Rande des Sarkophags liegen geblieben war. 
MAs er diesen allgemach bewegte, merkte er, daß unter Gottes Beistand der Stein 
sich fortschob. Und als der Priester ihn schon so weit zurückgebracht hatte, daß er 
den Kopf herausstecken konnte, machte er sich dann mit größerer Leichtigkeit eine 
Offnung so weit, daß er ganz herauszusteigen vermochte. Inzwischen hatte das 
Dunkel der Nacht zwar schon das helle Tageslicht verscheucht, sich aber doch noch 
nicht völlig ausgebreitet, und der Priester suchte eine Hintertüre in der Gruft; die 
war mit sehr starken Riegeln und festen Nägeln versperrt, aber sie war nicht so 
fest zusammengefügt, daß man zwischen den Brettern nicht hätte die Gestalt eines 
Menschen erblicken können. An diese Türe legte der Priester den Kopf und sah 
einen Mann, der des Weges vorüberging. Da rief er ihn an, doch mit leiser 
Stimme. Jener hörte es und hieb flugs mit der Axt, die er in der Hand hatte, 
die hölzernen Bretter durch, von welchen die Riegel gehalten wurden und öffnete 
so dem Priester den Ausgang. Dieser machte sich sofort bei Nacht auf und eilte
	        
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