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Indem wir Frankreich, von dessen Initiative allein jede bisherige Beunruhigung
Europas ausgegangen ist, das Ergreifen der Offensive erschweren, handeln wir
zugleich im europäischen Interesse, welches das des Friedens ist. Von Deutsch-
land ist keine Störung des europäischen Friedens zu befürchten; nachdem uns
der Krieg, dem wir mit Sorgfalt und mit Uberwindung unseres durch Frank-
reich ohne Unterlaß herausgeforderten nationalen Selbstgefühls vier Jahre lang
aus dem Wege gegangen sind, trotz unserer Friedensliebe aufsgezwungen worden
ist, wollen wir zukünftige Sicherheit als den Preis der gewaltigen Anstrengungen
fordern, die wir zu unserer Verteidigung haben machen müssen. Niemand wird
uns Mangel an Mäßigung vorwerfen können, wenn wir diese gerechte und billige
Forderung festhalten.
Euere bitte ich, sich von diesen Gedanken zu durchdringen und dieselben
in Ihren Besprechungen mit zur Geltung zu bringen. v. Bismarck.
60.
Die Belagerung von Paris.
Quelle: Brief Moltkes an seinen Bruder Adolf vom 22. Dezember 1870.
Fundort: J. Schmieder, Quellen zur Geschichte. Leipzig 1912. Teil 2. S. 158 und 159.
Die allgemeine Sehnsucht nach Beendigung dieses furchtbaren Krieges läßt in
der Heimat vergessen, daß er erst fünf Monate dauert; man hofft alles von einem
Bombardement von Paris. Daß dieses nicht schon erfolgt, schreibt man zarter
Rücksicht auf die Pariser oder gar dem Einfluß hoher Persönlichkeiten zu, während
hier nur das militärisch Mögliche und Zweckmäßige ins Auge gefaßt wird. Von
drei Seiten sind mir schon die Verse zugeschickt:
„Guter Moltke gehst so stumm
Immer um das Ding herum;
Bester Moltke, sei nicht dumm;
Mach doch endlich bum, bum, bum!“
Was es heißt, eine Festung anzugreifen, zu deren Verteidigung eine Armee
bereit steht, das hätte man doch aus Sewastopol lernen können. Sewastopol wurde
erst Festung während des Angriffs; alles Material konnte zur See herangeschafft
werden; die Vorbereitungen dauerten zehn Monate; der erste Sturm kostete
10000, der zweite 13000 Menschen.
Um Paris zu bombardieren, müssen wir erst die Forts haben. Es ist auch
zur Anwendung dieses Zwangmittels nichts versäumt worden; ich erwarte aber
weit mehr von dem langsam, aber sicher wirkenden Hunger.
Wir wissen, daß seit Wochen in Paris nur noch einzelne Gaslaternen brennen,
daß in den meisten Häusern trotz des ungewöhnlich frühen und strengen Winters
ihres frevelhaften Angriffs, welche die französische Nation uns nie verzeihen wird. Wenn
wir jetzt ohne Gebietsabtretung, ohne jede Kontribution, ohne irgendwelche Vorteile als
den Ruhm unserer Waffen aus Frankreich abzögen, so würde doch derselbe Haß, dieselbe
Rachsucht wegen der verletzten Eitelkeit zurückbleiben, und sie würde nur auf den Tag
warten, wo sie hoffen dürfte, diese Gefühle mit Erfolg zur Tat zu machen . Nachdem
man uns zu dem Kriege, dem wir widerstrebten, gezwungen hat, müssen wir dahin
streben, für unsere Verteidigung gegen den nächsten Angriff bessere Bürgschaften als die
ihres Wohlwollens zu gewinnen.“