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Regierungen waren weit davon entfernt, hierin den einzigen Weg zu einer
inneren Gesundung zu erblicken. Die Mordversuche auf den erhabensten und
edelsten Monarchen, der sein Leben, seine Ehre, seinen Thron für des Vaterlandes
Wohl in heißen Kämpfen eingesetzt und das Traumbild der Einigung Deutsch-
lands verwirklicht hatte — sie konnten und sollten nicht bloß Maßregeln polizei-
licher Natur zur Folge haben. Für den Fürsten Bismarck waren jene Ereignisse
ein Beweis von dem Vorhandensein einer tief inneren Krankheit des Volkes und
eine Aufforderung zu dem Versuche einer Heilung der öffentlichen Zustände, die
solche Freveltaten möglich gemacht und hatten heranreifen lassen. Für ihn unter-
lag es keinem Zweifel, daß die Verirrung und Verwilderung der Gemüter, aus
der jene Verbrechen hervorgegangen, nicht lediglich in der Bosheit und Gottlosig-
keit ihren Grund hatten, sondern mit den wirtschaftlichen Verhältnissen im engsten
Zusammenhang standen. Das System der wirtschaftlichen Freiheit hat mehr
und mehr die Ungleichheit und die Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen durch
die Starken befördert. Die Abhängigkeit, in der die Industrie von dem Handel
steht und dadurch die Grundsätze der freien Konkurrenz erhalten wird, hat schließ-
lich immer nachhaltiger auf die einzelnen und namentlich die untersten Glieder
gewirkt, die überdies durch die ganze moderne Art und Weise der Produktion
immer mehr zu schutzlosen Werkzeugen herabgesunken sind. Diese Umstände haben
die Armut und Unzufriedenheit vermehrt und die Arbeiterklassen den Lehren
gewissenloser Agitatoren zugänglich gemacht.
Diesen Zuständen mußte vor allem dadurch Einhalt zu tun versucht werden,
daß man die Beschwerden und Klagen, die Bedürfnisse und Forderungen der
Arbeiterklasse wirklich untersuchte und abwog. Anstatt.. alles auch in Zukunft,
wie vielfach vorgeschlagen wurde, im Vertrauen auf den guten Geist der Mensch-
heit der freien Entwicklung anheimzugeben, gelangte Fürst Bismarck zu der Über-
zeugung, daß der Staat einen hohen sittlichen Beruf zu erfüllen und diesen vor
allem dadurch zu betätigen habe, daß er aufhört, eine gleichgültige Aufseherrolle
zu spielen, daß er vielmehr den Schwachen helfend und fördernd zur Seite stehen
müsse, um sie vor den Unbilden des Lebens und den eigennützig waltenden
Privatinteressen des Stärkeren, soviel eben im allgemeinen Interesse liegt, zu
schützen. Und hiermit hat er den vernünftigen und berechtigten Kern der
sozialistischen Forderungen und Beschwerden, die durch das freihändlerische Wirt-
schaftssystem hervorgerufen worden sind, der wüsten Agitation zu entziehen und
hoffentlich auch vor ferneren Auswüchsen zu bewahren gewußt. Durch wirksame
Staatshilfe hofft er die Arbeiter zu gesunden Gliedern und zu einer wesentlichen
Stütze der staatlichen Gemeinschaft zu machen.
72.
Die Sozialpolitik Kaiser Wilhelms I.
Quelle: Kaiserliche Botschaft an den Reichstag vom 17. November 1881.
Fundort: L. Hahn, Fürst Bismarck. Bd. 4. S. 221.
Schon im Februar dieses Jahres!1) haben wir unsere Überzeugung aus-
sprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege
munistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats= und Gesellschaftsordnung
bezwecken, sind zu verbieten.
1) Die Thronrede vom 15. Februar 1881 sprach die Zuversicht auf die Mitwirkung
des Reichstages zur Heilung sozialer Schäden im Wege der Gesetzgebung aus.