lassen. Es ist dem ganzen Wesen kongruent naturgemäß besonders kräftig ge-
wachsen. Es wird ihn als ersten Diener des Staates, als welchen er sich selbst
einführt, stets das Allgemeinwohl über alle einzelnen, namentlich über alle per-
sönlichen Interessen zu stellen, für das Heil des über alles geliebten Vaterlandes
das eigene Behagen, den eigenen Vorteil, das eigene Leben unbedenklich zu
opfern treiben und befähigen.
Es gibt ihm auch jetzt die Kraft, ohne Schwindel der Selbstüberhebung wie
der Schwäche in einfacher Sicherheit durch den festen Glauben an sich und seinen
königlichen Beruf den Thron seiner Ahnen zu besteigen, diese einsame Höhe, wo
jene Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung die notwendigsten Ausrüstungsgegen-
stände sind. Es läßt ihn ohne Zittern der Hand die Zügel der Regierung er-
greifen und unerdrückt von der unermeßlichen Verantwortung tun, was seines
Amtes ist. Er weiß, er ist zu demselben berufen und muß nun desselben warten
mit dem, was an und in ihm ist. Hilfe bringen kann ihm dabei nur die Über-
zeugung, daß es der Himmel ist, der ihn dazu berufen, daß ihm also auch dessen
Schutz gewiß ist.
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Regierungsgrundsätze Kaiser Wilhelms II.
1888.
Quelle: Thronrede bei Eröffnung des Deutschen Reichstages am
25. Juni 18887).
Fundort: Johs. Penzler, Die Reden Kaiser Wilhelms II. Leipzig o. J. Bd. 1. S. 11—14.
Geehrte Herren!
Mit tiefer Trauer im Herzen begrüße ich Sie und weiß, daß Sie mit mir
trauern. Die frische Erinnerung an die schweren Leiden meines hochseligen Herrn
Vaters, die erschütternde Tatsache, daß ich drei Monate nach dem Hintritt weiland
Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm berufen war, den Thron zu besteigen, üben
die gleiche Wirkung in den Herzen aller Deutschen, und unser Schmerz hat
warme Teilnahme in allen Ländern der Welt gefunden. Unter dem Duucke des-
selben bitte ich Gott, mir Kraft zur Erfüllung der hohen Pflichten zu verleihen,
zu denen sein Wille mich berufen hat.
Dieser Berufung folgend, habe ich das Vorbild vor Augen, welches Kaiser
Wilhelm nach schweren Kriegen in friedliebender Regierung seinen Nachfolgern
hinterlassen, und dem auch meines hochseligen Herrn Vaters Regierung ent-
sprochen hat, soweit die Betätigung seiner Absichten nicht durch Krankheit und
Tod verhindert worden ist.
Ich habe Sie, geehrte Herren, berufen, um vor Ihnen dem deutschen Volke
zu verkünden, daß ich entschlossen bin, als Kaiser und als König dieselben Wege
zu wandeln, auf denen mein hochseliger Herr Großvater das Vertrauen seiner
Bundesgenossen, die Liebe des deutschen Volkes und die wohlwollende Anerkennung
1) Zur Eröffnung des für eine außerordentliche Tagung einberufenen Reichstages
hatte sich die Mehrzahl der deutschen Bundesfürsten persönlich um den jugendlichen Kaiser
versammelt und bot dadurch dem Volke die Gewähr, daß auch die schweren Heim-
suchungen, die das Kaiserhaus betroffen hatten, die Bundes= und Reichstreue der deutschen
Fürsten keinen Augenblick erschüttern, sondern diese nur zu um so engerem Aneinander-
schluß bewegen konnte. Der Kaiser verlas die Thronrede selbst.