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nur überwunden werden, wenn dem deutschen Volk, dem es gerade damals an
einheitlichen Hoffnungen und Forderungen fehlte, von seinem Kaiser ein neues
Ziel gesteckt und ihm der Platz an der Sonne gezeigt wurde, auf den es ein
Recht hatte, und dem es zustreben mußte. Das patriotische Empfinden sollte aber
auch nicht überschäumend und in nicht wieder gut zu machender Weise unsere Be-
ziehungen zu England stören, dem gegenüber unsere Defensivstärke zur See noch
für Jahre hinaus eine ganz ungenügende war, und vor dem wir 1897, wie sich
in jenem Jahr ein kompetenter Beurteiler einmal ausdrückte, zur See dalagen, wie
Butter vor dem Messer. Den Bau einer ausreichenden Flotte zu ermöglichen,
war die nächstliegende und große Aufgabe der nachbismarckischen deutschen Politik,
eine Aufgabe, vor die auch ich mich in erster Linie gestellt sah, als ich am 28. Juni
1897 in Kiel, auf der „Hohenzollern“, am gleichen Tage und an derselben Stelle,
wo ich 12 Jahre später um meine Entlassung bat, von Seiner Majestät dem Kaiser
mit der Führung der auswärtigen Angelegenheiten betraut wurde.
.Am 27. November veröffentlichte die Regierung, nachdem der bisherige
Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Admiral von Hollmann, durch eine Kraft
ersten Ranges, den Admiral von Tirpitz, ersetzt worden war, eine neue Marine-
vorlage, die den Neubau von sieben Linienschiffen, zwei großen und sieben kleinen
Kreuzern forderte, den Zeitpunkt für die Fertigstellung der Neubauten auf den
Schluß des Rechnungsjahres 1904 festsetzte und durch Begrenzung der Lebens-
dauer der Schiffe und die Bestimmung über die dauernd im Dienst zu haltenden
Formationen die rechtzeitige Vornahme von Ersatzbauten sicherstellte .. Die Vor-
lage schob die Flottenpolitik auf ein vollkommen neues Geleis. Bisher waren von
Zeit zu Zeit einzelne Neubauten gefordert und zum Teil bewilligt worden, aber
das feste Fundament, das die Armee im Sollbestand ihrer Formationen besaß,
hatte der Kriegsmarine gefehlt. Erst durch die Festsetzung der Lebensdauer der
Schiffe einerseits, des Bestandes an dienstfähigen Schiffen andererseits wurde die
Flotte ein fester Bestandteil unserer nationalen Wehrmacht.
Der Bau der deutschen Flotte mußte wie vor ihm andere große Aufgaben
unserer vaterländischen Geschichte mit dem Auge auf das Ausland durchgeführt
werden. Es war vorauszusehen, daß diese folgenschwere Verstärkung unserer
nationalen Macht in England Unbehagen und Mißtrauen hervorrufen würde
Mit dem Auge auf die englische Politik mußte unsere Flotte gebaut werden
— und so ist sie gebaut worden. Der Erfüllung dieser Aufgabe hatten meine Be-
mühungen auf dem Felde der großen Politik in erster Linie zu gelten. In
doppelter Hinsicht mußte sich Deutschland international unabhängig stellen. Wir
durften uns weder von einer grundsätzlich gegen England gerichteten Politik das
Gesetz unseres Entschließens und Handelns vorschreiben lassen, noch durften wir
uns um der englischen Freundschaft willen in englische Abhängigkeit begeben.
Beide Gefahren waren gegeben und rückten mehr als einmal in bedenkliche Nähe.
In unserer Entwicklung zur Seemacht konnten wir weder als Englands Trabant,
noch als Antagonist Englands zum erwünschten Ziele kommen. Die vorbehaltlose
und sichere Freundschaft Englands wäre schließlich nur zu erkaufen gewesen durch
Aufopferung eben der weltpolitischen Pläne, um derentwillen wir die britische
Freundschaft gesucht hätten. Wären wir diesen Weg gegangen, so würden wir
den Fehler begangen haben, den der römische Dichter meint, wenn er sagt, man
dürfe nicht propter vitam vivendi perdere causas, d. h. man dürfe nicht um des
Lebens willen die Grundlagen des Lebens verlieren. Das will hier sagen: Wir