— 178 —
104.
Deutschland und Frankreich.
Quelle: Fürst Bülow, Deutsche Politik. Berlin 1914. S. 35, 36, 42 und 43.
Die Unversöhnlichkeit Frankreichs ist ein Faktor, den wir in unsere politischen
Berechnungen einstellen müssen. Es scheint mir schwächlich, die Hoffnung zu
nähren, Frankreich wirklich und aufrichtig versöhnen zu können, solange wir nicht
die Absicht haben, Elsaß-Lothringen wieder herauszugeben. Und diese Absicht ist in
Deutschland nicht vorhanden. Gewiß gibt es eine Menge Einzelfragen, wo wir
Hand in Hand mit Frankreich gehen und namentlich zeitweise mit ihm zusammen-
gehen können. Wir müssen immer bestrebt bleiben, höfliche, ruhige und friedliche
Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus sollten wir aber
keinen Phantasmen nachjagen; sonst könnte es uns gehen, wie dem Astronomen
bei Lafontaine, der, während er nach den Sternen blickte, in das Loch fiel, das
vor seinen Füßen lag, und das er nicht gesehen hatte. Das Loch heißt in diesem
Falle Le trou des Vosges. Wir sollten uns auch Frankreich gegenüber von Auf-
merksamkeiten und Liebenswürdigkeiten, der petite monnaie des internationalen
Verkehrs, nicht allzuviel versprechen. Das auszusprechen, heißt dem stolzen
Patriotismus eines großen Volkes ein Lob spenden. Der Groll gegen Deutsch-
land sitzt zu tief in den französischen Herzen, ols daß wir ihn durch billige Freund-
schaftsbezeigungen beseitigen könnten. Niemals ist Frankreich, auch nicht nach den
katastrophalen Niederlagen der Jahre 1812—1815, so hart getroffen worden wie
durch den Krieg von 1870/71. Für die Tatsache, daß uns Deutschen nationale
Notwendigkeit gewesen ist, was den Franzosen als brutale Härte des Siegers er-
scheint, finden wir in Frankreich kein Verständnis. Vielleicht wird sich das fran-
zösische Volk im Laufe der Zeit den Bestimmungen des Frankfurter Friedens
fügen, wenn es erkennen muß, daß sie unabänderlich sind. Solange Frankreich
aber eine Möglichkeit zu erkennen glaubt, durch eigene Kraft oder fremde Hilfe
Elsaß-Lothringen wieder an sich zu bringen, wird es im gegenwärtigen Zustande
ein Provisorium, nicht ein Definitivum sehen
Deos letzte Ziel des französischen Strebens wird menschlichem Ermessen nach
noch auf lange hinaus das sein, die heute noch fehlenden Voraussetzungen für eine
aussichtsreiche Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reiche zu schaffen
Wiewohl es bemüht ist, militärisch den Nachteil auszugleichen, in den es durch
seine geringere Bevölkerungszahl uns gegenüber versetzt ist, hat es doch nicht mehr
das alte Zutrauen allein in die eigene Kraft. Die französische Politik sucht durch
Bündnisse und Freundschaften ein Gleichgewicht oder womöglich ein Übergewicht
gegen den deutschen Nachbarn zu gewinnen. Frankreich hat sich zu diesem Zweck
eines Teiles der eigenen freien Initiative begeben müssen und ist abhängiger als
früher von fremden Mächten geworden. Das ist den Franzosen natürlich bekannt
und bewußt. Daß der reizbare französische Nationalstolz sich mit dieser Tatsache
absindet, zeigt, welches der alles beherrschende nationale Wunsch des französischen
Volkes ist. Es ist kaum eine internationale Konstellation denkbar, die Frankreich
veranlassen könnte, seine von der Erinnerung an 1870 inspirierte Politik einer
grundsätzlichen Korrektur zu unterziehen.
Als wie in ganz Europa, auch in Frankreich die Wogen der Buren-
begeisterung hochgingen, fragte ein englischer Minister nicht ohne Besorgnis einen