2. Quelle: Denkschrift des deutschen Weißbuches vom 4. August 1914).
Nach Bekanntwerden der russischen Gesamtmobilisation in Berlin erhielt am
Nachmittag des 31. Juli der Kaiserliche Botschafter in Petersburg den Befehl,
der russischen Regierung zu eröffnen, Deutschland habe als Gegenmaßregel gegen
die allgemeine Mobilisierung der russischen Armee und Flotte den Kriegszustand
verkündet, dem die Mobilisation folgen müsse, wenn Rußland nicht binnen
12 Stunden seine militärischen Maßnahmen gegen Deutschland und Österreich-
Ungarn einstelle und Deutschland davon in Kenntnis seze
Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg hat die ihm aufgetragene Mitteilung
an Herrn Sasonowe) am 31. Juli um 12 Uhr nachts gemacht. 5
Eine Antwort der russischen Regierung hierauf hat uns nie erreicht.
Zwei Stunden nach Ablauf der in dieser Miteilung gestellten Frist hat der
Zar an Seine Majestät den Kaiser telegraphiert:
„Ich habe Dein Telegramm erhalten. Ich verstehe, daß Du gezwungen bist,
mobil zu machen; aber ich möchte von Dir dieselbe Garantie haben, die ich Dir
gegeben habe, nämlich, daß diese Maßnahmen nicht Krieg bedeuten und daß wir
fortfahren werden, zu verhandeln, zum Heile unserer beiden Länder und des all-
gemeinen Friedens, der unseren Herzen so teuer ist. Unserer langbewährten
Freundschaft muß es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu verhindern.
Dringend erwarte ich voll Vertrauen Deine Antwort.“
Hierauf hat Seine Majestät der Kaiser geantwortet:
„Ich danke Dir für Dein Telegramm; ich habe Deiner Regierung gestern den
Weg angegeben, durch den allein noch der Krieg vermieden werden kann. Ob-
wohl ich um eine Antwort für heute mittag ersucht hatte, hat mich bis jetzt noch
kein Telegramm meines Botschafters mit einer Antwort Deiner Regierung er-
reicht. Ich bin daher gezwungen worden, meine Armee zu mobilisieren. Eine
sofortige klare und unmißverständliche Antwort Deiner Regierung ist der einzige
Weg, um endloses Elend zu vermeiden. Bis ich diese Antwort erhalten habe, bin
ich zu meiner Betrübnis nicht in der Lage, auf den Gegenstand Deines Telegramms
einzugehen. Ich muß auf das ernsteste von Dir verlangen, daß Du unverzüglich
Deinen Truppen den Befehl gibst, unter keinen Umständen auch nur die leiseste
Verletzung unserer Grenzen zu begehen.“
Da die Rußland gestellte Frist verstrichen war, ohne daß eine Antwort auf
unsere Anfrage eingegangen wäre, hat Seine Majestät der Kaiser und König am
1. August um 5 Uhr nachmittags die Mobilmachung des gesamten deutschen
Heeres und der Kaiserlichen Marine befohlen. Der Keiserliche Botschafter in
Petersburg hatte inzwischen den Auftrag erhalten, falls die russische Regierung
innerhalb der ihr gestellten Frist keine befriedigende Antwort erteilen würde, ihr
zu erklären, daß wir nach Ablehnung unserer Forderung uns als im Kriegszustand
befindlich betrachtens). Ehe jedoch eine Meldung über die Ausführung dieses Auf-
trages einlief, überschritten russische Truppen, und zwar schon am Nachmittag des
1. August, also desselben Nachmittages, an dem das eben erwähnte Telegramm
des Zaren abgesandt war, unsere Grenze und rückten auf deutschem Gebiet vor.
Hiermit hat Rußland den Krieg gegen uns begonnen. · Es-
1) Am 4. August 1914 ging dem Reichstag ein Weißbuch (so genannt nach der Farbe des
Umschlages) zu, das eine vorläufige Denkschrift, sowie Aktenstücke zum Ausbruche des Krieges
enthielt. — „) Russischer Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. — 5) Vgl. 3. Quelle.