Einleitung. B. Charakter und Inhalt des bürgerlichen Gesetzbuchs. 81
gesetzes aber tritt auch ferner dem Kaufmann der Landmann mit seinen be-
deutsamen Interessen auf dem Gebiete des Privatrechts gegenüber.
In Deutschland sind die überlieferten Grundbesitzverhältnisse nicht so mit
einem Schlage beseitigt worden, wie in Frankreich durch die Revolution. Na-
poleon I. konnte sein bürgerliches Gesetzbuch machen ohne Vorbehalte zugunsten
adliger oder bäuerlicher Familien und ihrer altüberlieferten Besitzformen. Das
französische Recht des code civil kennt darum nur das neuzeitliche bürgerliche
freie Eigentum. In Deutschland aber haben alle Kodifikationen, so sehr sie
auch den Geist der Gegenwart in sich trugen, ihre Vorbehalte zugunsten des
überkommenen agrarischen Rechts gemacht. So schon das badische Land-
recht (durch das Mittel seiner Zusätze), ebenso das österreichische und das
sächsische Gesetzbuch. Dementsprechend hat auch das deutsche bürgerliche
Gesetzbuch seine Vorbehalte. Dem bürgerlichen Gesetzbuch steht, wie einerseits
das Sonder-Gewerbeprivatrecht (anderweitiges Reichsprivatrecht), so andererseits
vornehmlich das Sonderprivatrecht für agrarische Verhältnisse (vorbehaltenes
Landesprivatrecht) zur Seite.
Trotzdem bleibt das bürgerliche Gesetzbuch das gemeingültige Privat-
rechtsgesetzbuch für das Deutsche Reich. Das Sonderprivatrecht der ander-
weitigen Reichsgesetze und der vorbehaltenen Landesgesetze hat keine selb-
ständige Stellung gegenüber dem Privatrecht des Reichsgesetzbuchs. Soweit
die Sondergesetze (z. B. die Wechselordnung, das Handelsgesetzbuch, das
Landesrecht betreffend die Familienfideikommisse) für ihr Gebiet keine Sonder-
bestimmungen haben, tritt ergänzend das Privatrecht des bürgerlichen Gesetz-
buchs ein. Das bürgerliche Gesetzbuch enthält also das Privatrecht, welches
grundsätzlich auf alle Privatrechtsverhältnisse, auch auf die Verhältnisse mit
Sonderrecht, Anwendung findet, soweit keine Sondervorschriften da sind. Es
gibt in Zukunft nur noch ein einziges System des Privatrechts, das
des bürgerlichen Gesetzbuchs, in welches das anderweitige Reichsprivatrecht
und das vorbehaltene Ladesprivatrecht als bloß einzelne Sonderbestimmungen
bringendes Ausnahmsrecht sich eingliedert.
Noch ist der Gesamtaufbau unseres Privatrechts kein in sich völlig har-
monischer. Wir leben in einer Übergangszeit, in der Zeit des Übergangs vom
Agrarstaat zum Industriestaat. So trägt denn auch unser Privatrecht die Art
einer Übergangszeit an sich. Der eine, größere Teil des Gebäudes hat bürger-
lichen, der andere (das vorbehaltene Landesprivatrecht) hat in sehr erheblichen
Stücken noch heute agrarischen (ritterlich-bäuerlichen) Stil. Aber trotzdem
bildet das Ganze doch eine in sich zusammenhängende Einheit. Die Grund-
gedanken des bürgerlichen Rechts haben die Oberherrschaft. Das agrarische
Sonderrecht ist dem System des bürgerlichen Rechts eingeordnet. Das Recht
des Landmanns behauptet seine Eigenart, aber es steht trotzdem in ununter-
brochener Fühlung und Wechselwirkung mit dem bürgerlichen Recht, das inner-
halb des Reichsprivatrechts den Sieg davongetragen hat. Auch in dieser Hin-
sicht ist unser Privatrechtszustand ein Spiegelbild der Kultur der Gegen-
wart.
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 6