System des bürgerlichen Rechts. B. Das Recht der Schuldverhältnisse. 101
sein wird, kann nicht von vornherein genau gesagt werden. Es bestimmt sich
alles nach Umständen, nach der Lage der Dinge sowohl zur Zeit der Entstehung
des Schuldverhältnisses wie später (z. B. infolge von Verschulden oder Verzug).
Alle Forderungsrechte stehen unter dem Regiment von Treu und Glauben.
Sie bekommen dadurch etwas Unberechenbares. Aber das ist es gerade, was
in weitaus den meisten Fällen dem Verkehr entspricht. Es liegt in der Natur
der Dinge, daß die Parteien im voraus nicht alles zu berechnen und zu bereden
imstande sind. Sie pflegen sich auf die Vereinbarung dessen zu beschränken,
was ihnen gegenwärtig als die Hauptsache erscheint, z. B. beim Kauf auf die
Beredung von Preis und Ware. Was sonst alles an Wirkungen aus dem Rechts-
geschäft hervorgehen soll, wenn nichtvorhergesehene Umstände eintreten, wenn
z. B. die Sache Mängel hat oder dem Käufer von einem Dritten (dem wahren
Eigentümer) abgestritten wird, oder der eine Teil in Verzug gerät oder schuld-
haft handelt, das kann und soll nicht nach dem Vertrage, sondern nur nach
Treu und Glauben, nach Maßgabe der Verkehrssitte beurteilt werden. Aus der
Verkehrssitte entwickelt sich naturgemäß ein Verkehrsrecht, das die Anforde-
rungen von Treu und Glauben für die einzelnen Schuldverhältnisse in bestimmte
Regeln faßt. Das große Vorbild hat hier das römische Recht gegeben, dessen
Stärke gerade darin beruht, dem Schuldrecht der gangbarsten Verträge (so
Kauf und Miete, die schon damals als bonae fidei negotia behandelt wurden)
auf Grund der bona fides bestimmte und doch biegsame Form zu geben. Das
bürgerliche Gesetzbuch ist darin dem römischen Recht gefolgt. Der weitaus
größte Teil des im zweiten Buche des bürgerlichen Gesetzbuchs niedergelegten
Schuldrechts besteht in der Entwickelung solcher ergänzenden Rechtssätze,
die klarstellen, was Treu und Glauben von der Partei fordert, soweit der Schuld-
vertrag keine bestimmte Auskunft gibt.
Und doch finden sich auch im heutigen Recht einzelne Schuldverhältnisse,
die an die strengrechtlichen Obligationen der älteren Zeit erinnern, die einen
berechenbaren, nach Maßgabe des Schuldgrundes genau sich bestimmenden
Inhalt haben. Das gilt, um die wichtigsten Fälle zu nennen, von der Wechsel-
verpflichtung und von der Schuld aus dem Inhaberpapier. Aus dem Wechsel
wird genau die Wechselsumme (mit den Nebenleistungen, welche die Wechsel-
ordnung festsetzt), aus dem Inhaberpapier (z. B. der Banknote) genau die zu-
gesagte Leistung geschuldet. Der Verkehr bedarf für gewisse Zwecke auch
solcher strengen, nicht nach Umständen wandelbaren Schuldverpflichtungen.
Aber diese Fälle sind nicht als Ausnahmen von dem durch das bürgerliche
Gesetzbuch allgemein aufgestellten Grundsatz der Bestimmung des Schuld-
inhalts nach Treu und Glauben aufzufassen. Es liegt vielmehr so, daß Treu
und Glauben nach Maßgabe der Verkehrssitte in diesen Fällen die strenge, be-
rechenbare Wirkung des Schuldverhältnisses fordert. Um der strengen Schuld-
verbindlichkeit willen sind diese Rechtsverhältnisse von den Parteien geschaffen
worden. In der Strenge liegt ihr Wert, und gerade nach Treu und Glauben
müssen sie darum genau erfüllt werden. So fordert es mit der Verkehrssitte
das Verkehrsrecht. In unserem Recht des bürgerlichen Gesetzbuchs hat der
Strenge Schuld-
verpflichtung.
Wechsel.
Inhaberpapier.