144 RupoLpH SOHM: Bürgerliches Recht.
punkt. Der Geist des Privatrechts unserer Zeit hat das Wort bekommen. Er
redet aus diesem Wogenschlag langhinrollender Paragraphenreihen, Was ist
es, was er uns verkündet?
Den ‚‚besitzlosen Volksklassen‘‘ ist gesagt worden: Laßt alle Hoffnung
fahren! Denn alles Recht ist dem Starken zum Raube gegeben. Es ist aus
Interessenkämpfen geboren. Der Mächtigere siegt. Das seinen Interessen Ent-
sprechende setzt sich, so hören wir, zunächst als Gewohnheitsrecht durch, um
sodann vom Gesetzgeber lediglich in Form gebracht zu werden. Das Recht,
auch unser heutiges bürgerliches Recht, stammt folglich nicht aus dem Geiste
der gesamten Nation. Es ist das Erzeugnis nur der begünstigten Volkskreise.
Es dient, die Herrschaft des einen Fünftels über die besitzlosen vier Fünftel,
die Herrschaft der wenigen Auserkorenen über die ungeheure Mehrheit, der
Starken über die Schwachen zu besiegeln.
Aber wer so redet, der hat die Stimme der Rechtsgeschichte, der hat auch
die Stimme, die aus dem bürgerlichen Gesetzbuch spricht, nicht vernommen.
Das Recht wird immer einzelne Härten, ja Ungerechtigkeiten in sich
tragen. Das liegt in der Unvollkommenheit alles Menschlichen, insbesondere
geschriebener Gesetze mit Notwendigkeit begründet. Niemals aber ist das Recht
im ganzen ungerecht. Niemals läßt das Recht als Ganzes sich zum Werkzeug
für die Selbstsucht der Mächtigen erniedrigen. Das ist gleichfalls in der Art
des Rechts mit eherner Notwendigkeit begründet. Das Recht lebt nicht durch
Polizeigewalt noch durch die Bajonette der Soldaten. Die Aufrechthaltung der
Rechtsordnung durch bloßen äußeren Zwang ist zu allen Zeiten ein Ding der
Unmöglichkeit gewesen: bei den ungeheuer gesteigerten Machtmitteln des
heutigen Staats ganz geradeso wie in den früheren Jahrhunderten. Das Recht
lebt durch die Rechtsüberzeugung aller Rechtsgenossen, der besitzlosen wie
der besitzenden. Auch denen, die theoretisch die Idee vom Zukunftsstaat im
Kopfe haben, ist die bestehende Staats- und Eigentumsordnung (als Ganzes
genommen) geltendes Recht. Sie können gar nicht anders empfinden,
auch wenn sie anders zu denken beabsichtigen. Jedem ohne Ausnahme drängt
es sich auf als Pflicht, nicht bloß als äußerlich erzwungene Notwendigkeit,
das empfangene Darlehn zurückzuzahlen, für die gemietete Wohnung den Miet-
zins zu entrichten, das erworbene Eigentum zu achten. Mit elementarer Natur-
gewalt leben die grundlegenden Ideen, und zwar an erster Stelle gerade des
geltenden Privatrechts, in allen ohne Unterschied. Wäre das nicht, müßte
jedes Darlehn, jeder Mietzins, jeder Kaufpreis mit Gewalt eingetrieben werden,
so wäre es mit der Geltung unseres Privatrechts sofort zu Ende. Das Privat-
recht ist, weil es jeden ohne Ausnahme unmittelbar berührt und in Anspruch
nimmt, in noch weit höherem Grade von der allgemeinen inneren Zustimmung
abhängig als das öffentliche Recht. Sobald das allgemeine Rechtsbewußt-
sein nicht mehr hinter dem geltenden Rechte steht, ist seine Lebenskraft
zu Ende.
Das Recht (als Ganzes) dient niemals der Selbstsucht einzelner Klassen.
Es dient immer lediglich der Nation.