Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Literatur®). 
Die Geschichte der Privatrechtswissenschaft hat bei den römischen 
Juristen einzusetzen. Die römische Jurisprudenz hat die Grundlagen unserer heutigen 
Privatrechts wissenschaft geschaffen. Wie den Hellenen auf dem Gebiete der Kunst, 
so war den Römern auf dem Gebiete des Rechts der geniale Formensinn eigen, der den 
von der Natur dargebotenen Stoff bändigt, um ihn zum Ausdrucksmittel menschlichen 
Geistes zu erheben. 
In Rom war esin den Jahrhunderten des Königtums und der Republik das Priester- 
kollegium der Pontifices, das von altersher mit den übrigen Wissenschaften den Besitz der 
Rechtswissenschaft verband. Sie kannten den Rechtskalender, die Tage, an denen Klage 
von den Göttern zugelassen (dies fasti) und nicht zugelassen war (dies nefasti). Sie 
kannten die Formeln der Rechtsgeschäfte und der Prozeßhandlungen. Sie übten ihre 
Autorität in der Form von Gutachten (responsa), die sie der richtenden Obrigkeit sowie 
auf Anfrage der Partei erteilten. 
Seit dem Beginn der Kaiserzeit wird das Recht, verbindliche Rechtsgutachten ab- 
zugeben (jus respondendi), vom Kaiser frei verliehen. Die Rechtswissenschaft ward ein 
Bestandteil des weltlichen nationalen Lebens, und eine juristische Literatur kam auf, 
die in den ersten drei Jahrhunderten des Kaiserreichs die Herrschaft über die römische 
Rechtsentwicklung führte. Das im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung 
zur vollen Blüte gelangende klassische römische Recht ist das Werk der freien 
Wissenschaft gewesen, einer Wissenschaft, die aus den Volksgesetzen und überlieferten 
Verkehrsgewohnheiten (jus civile) einerseits, aus dem Rechtspflegeerlaß (Edikt) des 
Prätors, d. h. der stadtrömischen Gerichtsobrigkeit, andererseits ein einheitliches System 
des Rechtes, insbesondere des Privatrechtes entwickelte, das Geschlossenheit des Auf- 
baues mit dem von dem Weltverkehr des Weltreichs geforderten Freiheitsraum für die 
Handhabung im einzelnen vereinigte. 
Die Art des römischen Juristen war eine andere als die unsere. Sie war nicht so sehr 
rechtsbegreifender als vielmehr rechtsschöpferischer Natur. Sie war an erster Stelle 
Kunst: die Kunst dem Einzelfall sein ihm entsprechendes Recht zu geben, die Kunst 
der kasuistischen Rechtserzeugung. Die vornehmsten Werke der römischen Juristen 
ergehen sich in der Behandlung unzähliger Einzelfälle. Der Inhalt der Gesetzestexte und 
des prätorischen Edikts war verhältnismäßig arm. Er erfüllte sich unter den Händen der 
römischen Juristen durch eine freie, dem Leben zugewandte, den Buchstaben der Texte 
zugleich pflegende und beherrschende praktisch-kasuistische Handhabung mit unend- 
lichem Reichtum. Das Große dabei war, daß die Treffsicherheit der Einzelentscheidung 
mit einer namentlich an den Prozeßformularen des prätorischen Edikts erstarkten 
Schärfe und Bestimmtheit formgebender Grundgedanken sich verband, durch die die 
einzelnen Erscheinungen des Rechtslebens (Kauf, Miete, Sozietät, Eigentum, Dienst- 
barkeit usw.) zu fest umrissenen Rechtsinstituten sich gestalteten. Nicht als ob man die 
Grundgedanken abstrakt ausgesprochen und entwickelt hätte. Aber mit innerer Natur- 
*) Der Inhalt der vorstehenden Darstellung entstammt teilweise einem Lehrbuch des bürgerlichen Rechtes, das ich 
künftig im Verlag von DUNCKER & HUMBLOT herauszugeben gedenke. 
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