Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Literatur. I49 
Was den Glossatoren fehlte, war vor allem der Zusammenhang mit der lebendigen 
Gegenwart von damals. Ihre Arbeit war in der Hauptsache rein theoretischer Natur. 
Das römische Recht, das sie aus dem Corpus Juris neu entwickelten, war ohne praktische 
Geltung. Sie lebten im Himmel des römischen Rechts und sahen die Welt nur von ferne. 
Es kam noch eins hinzu. Es genügte nicht, die römische Art der Rechtswissenschaft 
künstlerisch nachzugestalten. Es kam darauf an, aus den Anregungen der römischen 
Juristen eine neue Rechtswissenschaft, eine Wissenschaft im Stil der eigenen Zeit und 
damit zugleich im Stil der kommenden Jahrhunderte hervorzubringen. Ansätze in dieser 
doppelten Richtung, einerseits auf das Praktische, andererseits auf das modern Wissen- 
schaftliche, finden sich natürlich schon bei den Glossatoren. Die Lösung der bezeichneten 
zweifachen Aufgabe aber war ihren Nachfolgern, der Schule der Postglossatoren oder 
Kommentatoren, vorbehalten, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, über die Uni- 
versitäten Italiens sich ausbreitend, die mittelalterliche Wissenschaft vom römischen 
Recht beherrschte. 
Die Tätigkeit der Kommentatoren war nicht auf die Erläuterung des Corpus Juris 
gerichtet, obgleich sie ihre großen Werke in der Form von Kommentaren zum Corpus Juris 
gaben. Die Erläuterung des Corpus Juris w ar für sie mit der glossa ordinaria des Accursius 
abgeschlossen. Was sie in ihren Kommentaren brachten, war die Verarbeitung des 
römischen Rechtes mit dem praktisch geltenden Recht, mit den Stadtrechten (‚Statuten‘) 
Italiens, d.h. mit germanischem Recht, einerseits, mit dem in den geistlichen Gerichten 
geltenden hochentwickelten kanonischen Recht (dem Recht des Corpus Juris canonici) 
andererseits. Es war die Zeit des 14. Jahrhunderts, die völkergebärende Zeit, in der die 
Nationalitäten der Gegenwart sich bildeten. Aus der Völkermischung Italiens entstand 
die italienische Nation. Im Trecento schlug unter dem Brausen einer mächtigen lite- 
rarischen und künstlerischen Bewegung (DANTE, GIOTTO) der Geist Italiens die Augen 
auf. Es entstand ein italienisches Kulturleben. Es entstand unter den Händen der 
Kommentatoren gleichzeitig ein unter dem führenden Einfluß des römischen Rechtes 
gebildetes, aber germanische und kanonische Rechtsgedanken in sich aufnehmendes ge- 
meines italienisches Recht. 
Das Mittel zu einer solchen Leistung war die neue Wissenschaft. In Frankreich hatte 
mit dem beginnenden ı2. Jahrhundert eine Umwälzung des Denkens sich durchgesetzt. 
Die Scholastik trat auf, das geistige Leben des Mittelalters zu erobern. Der Gedanke 
begehrte seine Freiheit. Die Scholastik war der erste große Angriff auf die Herrschaft 
der überlieferten Kirchenlehre. Sie prüfte die Zeugnisse der Vergangenheit, die Autori- 
täten, um ihre Widersprüche aufzuweisen und das Denken der Gegenwart zum Schieds- 
richter über die Wahrheit einzusetzen (Abälard, Sic et Non). Sie lehrte die über- 
kommenen Autoritäten anzuerkennen und ihrer dennoch zu spotten. Mit den Mitteln 
der Scholastik ist die kirchliche Autorität sodann neu begründet worden (GRATIAN, 
THOMAS voN AQUINO); dennoch war sie für alle Folgezeit erschüttert. Ihre Verteidiger 
waren genötigt, die neuen Wege zu gehen und die kirchliche Lehre wissenschaftlich zu 
rechtfertigen. Die Kirche bedurfte des Bundes mit der Wissenschaft und ward damit 
von der Entwicklung der Bundesgenossin abhängig. Die Zeit der bloßen Überlieferung 
war dahin. Am großen Meister Aristoteles lernte man das Denken, und die Überzeugungs- 
kraft des Denkens war größer als die Macht der geistlichen Autorität. Die Vernunft des 
Individuums unternahm es, sich zum Herren der Welt zu machen. Ihr Mittel war die 
Dialektik, die Quelle ihrer Schlüsse der Begriff. Der Scholastik war Beobachtung, 
Induktion unbekannt. Sie hatte nur die folgernde, deduktive Methode. Das reine Denken 
erschloß die Welt. Aus Begriffen ward das Wirkliche abgeleitet. Das Verlangen des 
menschlichen Geistes nach Überwindung des rein Stofflichen ward befriedigt. Ein Rausch 
der Erkenntnis ging durch das Abendland. Der Geist erschuf die Welt nach seinem Bilde. 
Bei den Glossatoren finden sich nur leise Anfänge der neuen Art. Erst durch die 
Kommentatoren ward die scholastische Methode auch auf dem Rechtsgebiete durch-
	        
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