Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

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16. Jahrhundert verdrängten juristisch gebildete Richter die leistungsunfähig gewordenen 
Schöffen. Die römischen Rechtsbegriffe traten nunmehr auch praktisch die Herrschaft 
an und die deutschen Partikularrechte wurden einem gemeinrechtich geltenden römischen 
Rechtssystem als örtlich in Geltung stehende Sondergesetze eingefügt. So kam es, als 
Deutschland nach einem einheitlichen und nach einem bürgerlich gearteten Recht ver- 
langte, zu einem gemeinen römischen bürgerlichen Recht (oben S. 78, 79). 
Die Tätigkeit der deutschen Juristen war vom 16. bis in das 18. Jahrhundert durch- 
aus auf das einzelne gerichtet, auf die Handhabung und Anpassung des rezipierten 
fremden Rechtes, auf seine Auseinandersetzung mit dem am Leben gebliebenen deutschen 
Recht. Während die Franzosen des 16. Jahrhunderts (an ihrer Spitze CUJAcIıUS und 
DoneLLus) und ihnen folgend im ı7. und 18. Jahrhundert die Niederländer bereits eine 
humanistische, „elegante‘‘, auf das reine römische Recht in geschichtlich-antiquarischem 
Sinne sich richtende Wissenschaft entwickelten, blieben die deutschen Juristen unter der 
Herrschaft der Kommentatoren, gebunden an die Einzelfragen der Rechtsprechung. 
Im Mittelpunkt der neuen Entwickelung stand die Rechtsprechung des Reichskammer- 
gerichts, das, zunächst zur Hälfte, bald ausschließlich mit Doktoren besetzt, der Führer 
in der Anwendung des neuen fremden Rechtes war. Es war die Zeit der „Praktiker‘', 
der „Kameraljuristen‘‘, unter denen im 16. Jahrhundert MYNSINGER und GAIL hervor- 
ragten. Im ı7. Jahrhundert kam auch die Praxis deutschen Partikularrechtes zum Wort. 
BENEDIKT CARPZOW schrieb seine einflußreiche „römisch-sächsische Jurisprudenz“ 
(Jurisprudentia forensis Romano-Saxonica 1638), MEvIUS (f 1670 in Greifswald) seinen 
berühmten Kommentar zum lübischen Stadtrecht (auch ‚„römisch-lübischer‘‘ Art). Im 
ı8. Jahrhundert brachten die großen Pandektenwerke des STRYCcK, ]. H. BOHMER, 
LEYSER die Ausbildung eines gemeinen römisch-deutschen Privatrechts (usus mo- 
dernus pandectarum, heutiger Gebrauch des Pandektenrechtes genannt) zum Abschluß. 
welches das römische Recht in starker Umbildung und Ergänzung durch deutsche Reichs- 
gesetze und deutsche Praxis zum Inhalt hatte. 
Aber die Stunde der gemeinrechtlichen Pandektenwissenschaft hatte bereits ge- 
schlagen. Eine neue Naturrechtswissenschaft kam auf. Der Holländer Huco 
GROTIUS (de jure belli ac pacis, 1625) hatte sie bereits im ı7. Jahrhundert begründet. 
Im ı8. Jahrhundert erlangte sie die Herrschaft über den Geist der Zeit. Ihre Macht 
war der Individualismus im Sinne unserer Gegenwart. Sie verlangte Freiheit für alle 
Kräfte des einzelnen, die Beseitigung der aus dem Mittelalter überlieferten gebundenen 
Grundbesitz- und Gewerbeverfassung, Freiheit für das religiöse Denken und für die 
Wissenschaft. Ihre Gedanken sind noch heute mächtig. Sie gab der Gesetzgebung 
ein neues großes Ziel: das überlieferte Recht durch ein „vernünftiges“ Recht im Sinne 
der Gegenwart zu ersetzen. Der Gedanke der Kodifikation tauchte auf (LEIBNIZ), 
und das geltende Pandektenrecht ward an der Hand des neuen ‚‚Naturrechts‘‘ schnei- 
diger Kritik unterzogen (THOMASIUS, CHRISTIAN WOLF). Das alternde Reich war nicht 
mehr imstande, der neuen Bewegung zu folgen. Aber die Landesgesetzgebungen er- 
hoben sich, die große Aufgabe in ihre Hand zu nehmen: die Zeit der Kodifikationen nahm 
ihren Anfang (oben S.81ı). 
Es fehlte noch eins. Die deutsche Rechtswissenschaft mußte in den Stand ge- 
setzt werden, dem zich vorbereitenden mächtigen Umschwunge, der Beseitigung des 
Pandektenrechts durch Hervorbringung eines deutschen bürgerlichen Rechtes, Be- 
gleiterin und Führerin zu sein. Es bedurfte der Erzeugung einer deutschen Rechts- 
wissenschaft, die von der aus Italien stammenden Überlieferung sich nicht bloß durch 
Widerspruch, sondern durch innerliche Überwindung, durch Erreichung einer höheren 
Stufe der Entwickelung befreite. Durch die Naturrechtswissenschaft konnte das nicht 
erreicht werden. Sie war mehr Philosophie als Jurisprudenz. Sie wies hohe Ziele, aber 
sie war des positiven Stoffes nicht mächtig, der auf dem Gebiete des geltenden Rechtes 
unerbittlich seine eherne Herrschaft führt. Darum blieb durch das ganze 18. Jahrhun- 
dert neben der naturrechtlichen Lehre für die Praxis der überlieferte Betrieb des Pan-
	        
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