152 RupoLpH SOHM: Bürgerliches Recht.
dektenrechts dennoch so gut wie unverändert bei Bestand. Es bedurfte einer neuen,
nicht bloß dem Dialektischen, Vernünftigen, Naturnotwendigen, sondern ebenso dem
Positiven, Geschichtlichen, Gegebenen zugewandten Rechtswissenschaft, einer neuen
Rechtswissenschaft, mächtiger noch als einst die Wissenschaft der Italiener.
Diese neue geschichtliche Rechtswissenschaft, die heute in der Kultur-
welt die Herrschaft führt, ist von dem deutschen Geiste erzeugt worden. In seiner be-
rühmten, weithin wirkenden Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft‘‘ (1814) entdeckte der Schöpfer unserer heutigen Rechtswissenschaft,
FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY (1779—1861), das Entwickelungsgesetz als das Grund-
gesetz auch des gesamten Rechtslebens. Das Recht ist nicht gemacht, wird nicht
gemacht, kann nicht gemacht werden. Es ist das naturnotwendige Erzeugnis des ge-
samten Volkslebens. Es ist geworden und wird werden als das Werk der in der Gesamt-
entwickelung des Volkes oflenbar-geheimnisvoll wirkenden Lebenskräfte. Es fließt
unaufhörlich, in niemals unterbrochenem Zusammenhange mit der Vergangenheit un-
widerstehlich einem fernen Ziele zustrebend. Dem Gesetzgeber kommt nur eine för-
dernde, begleitende, die neuen Rechtsgedanken zur Aussprache bringende, formgebende
Rolle zu. Damit ward die geschichtliche Rechtswissenschaft, welche die Rechtswissen-
schaft der Gegenwart ist, durch SAvIıGnY begründet. Sie eröffnete das Verständnis zu-
gleich des Gewesenen und des Gegenwärtigen. Sie machte den großen Strom des Rechtes
von den fernen Jahrhunderten her sichtbar, zugleich seine Richtung, die er in Zukunft
nehmen wird.
Die erste Tätigkeit, die die neue Schule unter SAvIGNYS unmittelbarer Führung
entwickelte, war auf die geschichtliche Erforschung des römischen und des
deutschen Rechtes gerichtet. EICHHORN begründete die Wissenschaft der deut-
schen Rechtsgeschichte und des deutschen Privatrechts in unserem Sinn. Der Löwen-
anteil der Arbeit fiel dem römischen Rechte zu. Das klassische römische Recht, bisher
durch die italienische Wissenschaft und den Usus modernus verdeckt, ward sichtbar
in seiner ganzen Schönheit. v. SAVIGNY selber ließ in seinem „Recht des Besitzes‘
(1. Aufl. 1803) das römische Recht vom Besitzschutz in seiner reinen, künstlerisch voll-
endeten Gestalt vor den erstaunten Augen der Zeitgenossen auferstehen. Später schrieb
er ein „System des heutigen römischen Rechtes‘‘, von dem 8 Bände, die allgemeinen
Lehren enthaltend, erschienen sind, und ein „Obligationenrecht‘‘ (2 Bände, gleichfalls
unvollendet). Die Rechtswissenschaft Deutschlands fiel dem reinen römischen Rechte
zu. PUCHTA, der bedeutendste Schüler SAVIGNYSs, schrieb sein klassisches Pandekten-
werk, den Geist des reinen römischen Rechtes in prägnanter Form zu wirkungsvoller
Darstellung bringend. Eine Fülle von hervorragenden Arbeiten, deren Reihe noch
heute nicht abgeschlossen ist, gab der deutschen Rechtswissenschaft die Führung auf
dem Gebiet der römischen, auch auf dem Gebiet der germanischen Rechtsgeschichte,
und an der Hand der geschichtlichen Arbeit erwuchs zugleich eine neue vertiefte Ein-
sicht in den Inhalt der geschichtlich wirksamen Rechtsbegriffe, so daß mit der Be-
herrschung des geschichtlichen Stoffes eine neue Meisterschaft der Rechtsdogmatik,
wiederum durch den Geist der römischen Juristen befruchtet, sich verband. Den Ab-
schluß der neueren dem römischen Recht zugewandten rechtsbegrifilichen Arbeit stellt
das einflußreiche bedeutende Pandektenlehrbuch WINDSCHEIDS dar.
Naturgemäß war zunächst mit der Richtung auf das Geschichtliche und Theo-
retische eine Einseitigkeit, die Abkehr von dem praktisch geltenden Recht, verbunden.
Das reine Pandektenrecht SAVIGNYS und PUCHTAS, auch das bereits mit neuzeitlichen
Rechtsgedanken durchsetzte Pandektenrecht WINDSCHEIDS konnte nicht das geltende
Recht des kommenden Jahrhunderts sein. In diesen rechtsgeschichtlichen und dogma-
tischen Studien ward die wissenschaftliche Kraft geübt, die neuer großer Aufgaben
mächtig war. Den neuen Stoff vermochte die Wissenschaft nicht zu bringen. Und
immer stärker ward auch innerhalb der rein wissenschaftlichen Bewegung die Zu-