Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Frühere Rechtstheorien. I. Das Naturrecht. 5 
er zu der genannten Art des Wollens erzogen und angeleitet und angehalten 
werden. Folglich ist für das richtige Wollen nicht eine natürliche Art des 
Menschen ein unbedingter und allgemeingültiger Maßstab, sondern dieser muß 
erst als eigene Gesetzmäßigkeit der Zwecke kritisch eingesehen und dargelegt 
werden und ist nicht von einer nicht recht faßbaren menschlichen ‚Natur‘, 
sozusagen, von außen her zu erwarten. 
Die zweite Richtung des Naturrechtes geht auf die Natur des Rechtes 
zurück. Hier heißt das Wort ‚Natur‘‘ dasselbe wie Wesen. Es wird mithin 
nach dem obersten einheitlichen Grundgedanken gefragt,! nach welchem Be- 
griff und Anwendung des Rechtes überhaupt einen verständlichen Sinn haben 
kann, um danach begründete Rechtssätze weiterhin aufzustellen. 
Der schärfste schöpferische Denker dieser Richtung war Rousseau: Du 
contrat socsal ou princides du droit publique (1762). Er fragt: Wie an die Stelle 
von willkürlicher Gewalt, die in der Geschichte bisher unaufhörlich erlebt worden 
ist, ein innerlich begründeter Zustand des Rechtes gesetzt werden 
könne? Dies sei nur möglich, wenn man den obersten Gedanken des Rechtes 
im Sinne eines Gesellschaftsvertrages faßt. — Es ist ein nicht seltenes, starkes 
Mißverständnis, als ob dieser contrat socsal des Rousseau eine geschichtliche 
Tatsache sein sollte und uns die zeitlich erste Entstehung des Rechtes 
in der Menschengeschichte erzählen möchte; — vielmehr will er eine Formel 
für die oberste Idee des Rechtes geben und die allgemeine Richtlinie für 
gerechte Gesetze bezeichnen. — Solche seien dann da, wenn sie der volonte 
generale entspringen. Dies aber ist nicht einfach der Wille aller oder der 
Mehrzahl, sondern bedeutet eine Maxime, welche das Wohl aller Men- 
schen überhaupt zur Richtschnur nimmt. Das ist Rousseaus Definition der 
Tugend. Ihr nachzustreben ist das einzige unbedingte Gebot für menschliches 
Wollen. — Für die Betätigung dieses Zieles sei es nötig, allen Genossen An- 
teil an der obersten Gewalt zu geben; es müssen die Herrscher mit den Be- 
herrschten zusammenfallen. Darum könne die Souveränität nicht vertreten 
werden; die Abgeordneten. des Volkes seien also nicht seine Repräsentanten, 
sondern nur Geschäftsführer, die nichts unabänderlich beschließen können. 
Dagegen bestehe die Vollziehung der Gesetze in ihrer Anwendung auf den 
einzelnen Fall und gehöre folglich nicht zum Wirkungskreise des souveränen 
Volkes, das nur den allgemeinen Willen äußere, sondern der Regierung, die 
als Demokratie, Aristokratie, Monarchie nach der Art der rechtmäßigen Aus- 
übung der vollziehenden Gewalt verschieden eingerichtet sein kann. 
Der gewaltige Einfluß, den Rousseau auf die Geschichte seiner Zeit und 
durch die französische Revolution auf die folgenden Perioden bis zur Gegen- 
wart ausgeübt hat, ist allgemein bekannt. Auch in der Rechtstheorie stehen 
sonst führende Geister, vor allem Kant, ganz unter seinem Banne. Erst ziem- 
lich spät hat sich ein prinzipieller Widerspruch finden lassen. 
Dabei war ein Fehler jener Forschung wahrlich nicht in der Fragestellung 
als solcher gegeben. Von ‚der Natur des Rechtes‘ reden auch heute Anhänger 
der geschichtlichen Rechtsschule und sonst empiristisch gerichtete Juristen. 
Natur des 
Rechtes. 
Fehler des 
Naturrechtes.
	        
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