STRAFRECHT{jUND STRAFPROZESSRECHT.
Von
FRANZ VON LiISZT.
Einleitung. Das Unrecht ist der Hebel des Rechtes. Die biblische Er- Verbrechen una
zählung vom Sündenfall ist der Ausdruck einer durch die Menschheitsgeschichte en tllean
festgestellten allgemeingültigen Tatsache: daß die Fähigkeit, gut und böse zu Entwicklung.
unterscheiden, erworben werde durch die Sünde. Die Norm tritt nicht über
die Schwelle des Bewußtseins, ehe sie verletzt worden ist.
So stehen die beiden Begriffe ‚Verbrechen‘ und ‚Strafe‘‘ am Anfang
aller Geschichte. Sie sind ungleich älter als jede Rechtsordnung. Sie gehören
jener ältesten Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft an, auf der
die Loslösung der Rechtsnorm von den Geboten und Verboten der Religion
und der Sittlichkeit sich noch nicht vollzogen hat.
Auf dieser ältesten Entwicklungsstufe ist das Verbrechen Auflehnung
gegen die göttliche Satzung: der Frevel, der den Zorn der Götter herabruft
auf den Täter und sein Geschlecht nicht nur, sondern auf alle, die die Genossen-
schaft mit ihm fortsetzen. Die Strafe aber besteht darin, daß die Gesamtheit
sich lossagt von dem Frevler, daß sie ihn den Göttern zum Opfer bringt oder
doch ihn hinausstößt in die Fremde, wo er, unstet und flüchtig, zugrunde gehen
mag. Die Friedlosigkeit ist die älteste Form der Strafe.
Wo über dem Geschlecht der erweiterte, auf Blutsgemeinschaft ruhende
Verband sich erhebt, der Stamm oder die Völkerschaft, da finden wir eine
andere Urform von Verbrechen und Strafe. Verbrechen ist hier der gewalt-
same Angriff eines Geschlechts auf ein anderes; und Strafe die blutige Vergeltung,
die dieses Geschlecht an jenem nimmt: die Blutrache, die Rache von Geschlecht
zu Geschlecht.
In langsamer Wandlung vollzieht sich der Übergang von der Bluts-
gemeinschaft zur Staatsbildung. Mit dem Entstehen der Staatsgewalt gewinnen
Klugheitserwägungen entscheidenden Einfluß auf die Verurteilung und die
Bestrafung des Verbrechers. Dem Auszustoßenden wird das Verbleiben im
Friedensverband oder der Wiedereintritt in ihn gegen Sühneleistung gewährt;
die Beilegung der Geschlechterrache durch Sühneleistung erst gefordert, dann
erzwungen. Friedensgeld und Wergeld sind die beiden Hauptformen der Strafe
auf dieser Übergangsstufe, beide getragen von dem Gedanken der Sühne. Art