A. Das Strafrecht. I. Der Entwicklungsgang im 19. Jahrhundert. 237
Auch die deutschen Einzelstaaten blieben hinter den übrigen Ländern
nicht zurück. Viele von ihnen gelangten schon in der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts zu neuen Strafgesetzbüchern. So Sachsen 1838, die thüringische
Staatengruppe 1839 und in den folgenden Jahren, Württemberg 1839, Hannover
und Braunschweig 1840, Hessen-Darmstadt 1841, Baden 1845.
Besonders sorgfältig waren die legislativen Vorarbeiten in Preußen be-
trieben worden. Von 1826—1847 hatte man nicht weniger als neun Entwürfe
aufgestellt, die, in engster Fühlung mit der gemeindeutschen Entwickelung, alle
in den anderen Ländern gemachten Fortschritte fortlaufend prüften und ver-
arbeiteten.
Da trat um die Mitte des Jahrhunderts ein merkwürdiger Umschwung ein.
Unter dem Einfluß der rheinischen Juristen verließ Preußen mit dem Ende
der 40er Jahre den Boden des gemeinen Rechtes. Das Preußische Strafgesetz-
buch von 1851 schließt sich auf das engste an den Code p@nal von 1810. Das
bedeutete nicht mehr und nicht weniger als eine Rezeption des französischen
Rechtes. Mit ihr schied Preußen aus der gemein-deutschen Entwickelung aus,
um fortan auf strafrechtlichem Gebiet seine eigenen Wege zu gehen. Zugleich
begann damit die verhängnisvolle Entfremdung zwischen der gemeinrechtlich-
deutschen Wissenschaft und der preußischen Praxis, die es rasch lernte, auf
eigenen Füßen zu stehen. Während das von Professoren ins Leben gerufene
und geleitete Archiv für Kriminalrecht 1857 ein stilles, ruhmloses Ende fand,
blühte das von einem preußischen Praktiker (Goltdammer, Obertribunalsrat in
Berlin, F 1872) im Jahr 1853 gegründete Archiv für preußisches Strafrecht
rasch und kräftig empor.
Auch in den übrigen deutschen Einzelstaaten war um 1850 die schöp-
ferische Kraft erlahmt. Nur einzelne von ihnen setzten die gesetzgeberische
Arbeit auf strafrechtlichem Gebiet fort. So Sachsen, das 1855 und 1868, und
Bayern, das 1861 zur Weiterbildung ihrer bisherigen Strafgesetzbücher ge-
langten; endlich auch Hamburg, das 1869 ein neues Strafgesetzbuch einführte,
als schon das norddeutsche Strafgesetzbuch vor der Tür stand. In den beiden
Mecklenburg, in Lauenburg, Schaumburg-Lippe und Bremen galt im wesent-
lichen das auf der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. ruhende Gemeine
Recht weiter.
Die Rezeption des französischen Rechtes in Preußen sollte aber auch für Das Reichs-
die Strafgesetzgebung des Deutschen Reiches von bestimmendem Einfluß "uch
werden. Als man im Jahre 1868 daran ging, mit tunlichster Beschleunigung
ein Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund auszuarbeiten, legte der
Verfasser des ersten Entwurfs (Friedberg) das Preußische Strafgesetzbuch
von 1851 zugrunde. Da und dort wurden kleine Verbesserungen angebracht
und die Erfahrungen anderer Länder (besonders Sachsens) berücksichtigt. Im
ganzen aber kann man ohne jede Übertreibung sagen, daß das Strafgesetzbuch
für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870 und das diesem durchaus
entsprechende Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871, durch die Vermittelung
des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851, dem französischen Code penal