Das außer-
deutsche Straf-
recht.
Die deutsche
Strafrechts-
wissenschaft.
238 FRANZ voN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
von 1810 die Herrschaft über das ganze Gebiet des neu geeinten Reiches ge-
sichert hat.
Das Strafgesetzbuch, dessen Inhalt durch verschiedene kleinere Novellen
in einzelnem abgeändert worden ist, wird durch eine übergroße Zahl von Straf-
drohungen ergänzt, die in anderen Gesetzen enthalten sind.
Über das Strafrecht der außerdeutschen Staaten können an dieser Stelle
nur einzelne Fingerzeige gegeben werden.
Am weitesten zurückgeblieben ist die Entwickelung der Strafgesetzgebung
in den Ländern des englisch-amerikanischen Rechtes. Das englische Mutterland
ist trotz mancher Anläufe und trotz der für Indien und andere Kolonien aus-
gearbeiteten Strafgesetzbücher zu einer Gesamtkodifizierung seines Strafrechts
überhaupt noch nicht gelangt. Neben verschiedenen einzelnen Gesetzen (statute
law) herrscht hier also auch heute noch das common law, das aus den Prä-
judizien der Gerichtshöfe erkannt werden muß. Unter den Einzelgesetzen sind
besonders beachtenswert der Probation of first offenders act von 1907
(bedingte Verurteilung), der Childrens act von 1908 und der Prevention of
crime act von 1908 (Verwahrung der Gewohnheitsverbrecher). Die Vereinigten
Staaten von Amerika besitzen ein Bundesstrafgesetzbuch von I909 sowie
Gesetzbücher für die meisten Gliedstaaten, die durch wichtige Sondergesetze
über bedingte Verurteilung, Jugendstrafrecht und Unschädlichmachung (auch
Sterilisation) von Gewohnheitsverbrechern ergänzt werden.
In Österreich gilt heute noch das Strafgesetzbuch von 1852, das lediglich
eine verbesserte Auflage des Gesetzbuchs von 1803 ist, also noch hinter den
Code penal zurückreicht. In Frankreich hat die lange Herrschaft des Code
penal eine tüchtige Kommentatorenliteratur gezeitigt, die dogmatisch-syste-
matische Darstellung ist hinter der deutschen zurückgeblieben. Die Gesetz-
gebungen von Belgien, Luxemburg, Rumänien, der französischen Schweiz,
sowie der Türkei stehen durchaus unter dem Einfluß des französischen Rechtes,
Spanien und Portugal und die gerade auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung
besonders rührigen mittel- und südamerikanischen Staaten bilden eine be-
sondere (südromanische) Gruppe, die für die Gesamtentwickelung ohne wesent-
liche Bedeutung geblieben ist. Die deutsche Strafgesetzgebung ist von Einfluß
geworden auf Ungarn (1878). Selbständige Bedeutung, wenngleich unter
Wahrung der alten Grundlagen, besitzen die Strafgesetzbücher für die Nieder-
lande (1881), für Italien (1889), für Finland (1889), für Rußland von 1903
(noch nicht in Kraft getreten) und für Japan von 1907.
Wesentlich neue Bahnen sind dagegen eingeschlagen in dem norwegischen
Strafgesetzbuch von 1902 (dem Werke von Getz und Hagerup) sowie in den
neueren Entwürfen, von denen unten (unter IV) zu sprechen sein wird.
2. Die Wissenschaft. An den meisten dieser legislativen Arbeiten des In-
landes wie des Auslandes hat die deutsche Wissenschaft lebhaften und erfolgreichen
Anteil genommen. Unmittelbar durch positive Vorschläge und kritische Prüfung;
mittelbar durch die systematische und kommentatorische Verarbeitung des gel-
tenden Rechtes, durch rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Forschungen.