A. Das Strafrecht. II. Der Aufbau des geltenden Rechtes. 241
gemeine Durchführung des Systems scheiterte glücklicherweise an der Kosten-
frage. Bald aber erhoben sich auch grundsätzliche Bedenken. Man bestritt
zunächst, daß die Besserung allgemeiner Strafzweck sein könne und verwies
auf die große Zahl der unverbesserlichen gewerbs- und gewohnheitsmäßigen
Verbrecher. Man bestritt auch die bessernde Wirkung der langdauernden
Zellenhaft, durch die die Spannkraft des Verbrechers gelähmt, seine Fähigkeit,
im freien Wettbewerb mit anderen sich zu halten, vernichtet werde. Man ver-
langte, soweit es sich überhaupt um Besserungsstrafe handle, die allmählich,
stufenweise sich vollziehende Gewöhnung an den Gebrauch der Freiheit, mit-
hin einen progressiv gestalteten Strafvollzug. Diese Bedenken waren stark
genug, den Siegeslauf des Zellensystems zu hemmen; sie hatten aber nicht die
Kraft, dem progressiven System, das in England, Ungarn, Italien und einigen
anderen Staaten angenommen worden war, die allgemeine Anerkennung zu
erringen. Am Schluß des 19. Jahrhunderts konnte mithin festgestellt werden,
daß wir weder wissen, was wir mit der Freiheitsstrafe eigentlich wollen, noch
wie sie zu vollstrecken sei. Mit dieser mehr und mehr um sich greifenden Er-
kenntnis war die Behauptung gerechtfertigt, daß das Strafrecht trotz seiner
reichen legislativen Entfaltung, trotz seiner philosophischen Vertiefung, trotz
seiner glänzend entwickelten Dogmatik an einem toten Punkt angelangt sei.
II. Der Aufbau des geltenden Rechtes. Für eine allgemeine Über-
sicht der Kulturentwickelung des 19. Jahrhunderts genügt es, wenn das reich-
gegliederte System des Strafrechts in seinen allgemeinsten Umrissen vorgeführt
wird. Von einer rechtsvergleichenden Darstellung abzusehen, zwingt schon
der zugemessene Raum. Die Strafgesetzgebung des Deutschen Reiches gibt aber
für sich allein ein gutes Bild der heute in den kontinental-europäischen Ländern
herrschenden Anschauungen.
1. Die allgemeinen Lehren. Ausarbeitung eines allgemeinen Teiles Der altgemeine
ist die schwierigste, aber auch lohnendste Aufgabe für die Dogmatik einer "nn “=
jeden juristischen Zweigwissenschaft. Hier werden die allgemeinen Begriffe,
die aus der überreichen Fülle der einzelnen Rechtssätze durch sorgfältigste,
immer wiederholte Abstraktion gewonnen wurden, in einem System strengster
Über- und Unterordnung verbunden, so daß von hier aus das Gesamtgebiet
des besonderen Teiles überblickt und beherrscht werden kann. Von hier aus
bauen sich aber auch die Brücken, die von einer juristischen Disziplin hinüber-
führen zu allen anderen und über sie hinaus zur allgemeinen Rechtslehre und
noch weiter hinaus zur Philosophie als der Wissenschaft von den Wissen-
schaften.
Die deutschen kriminalistischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts können
sich rühmen, ihre beste Kraft dieser Aufgabe zur Verfügung gestellt zu haben,
Manches hatte sie von den Vorfahren übernommen, manches konnten sie vom
Ausland lernen: im großen und ganzen ist es eigene, selbständige Arbeit ge-
wesen, die sie geleistet haben. In der Gestaltung des allgemeinen Teiles liegt
die Stärke der deutschen strafrechtlichen Dogmatik, die in dieser Richtung die
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl. 16