Die Begrifls-
merkmale des
Verbrechens.
242 FRANZ voN LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
aller anderen Nationen überragt. In ihr liegt freilich auch zugleich ihre Schwäche:
die Abkehr vom Konkreten, vom Leben, von dem Menschen, und die Hinneigung
zum Formalismus.
Zwei Aufgaben waren es zunächst, die gelöst werden mußten: 1. die Fest-
stellung der allgemeinen Begriffsmerkmale des Verbrechens und 2. die Klar-
legung seiner allgemeinen Erscheinungsformen.
a) Vom dogmatisch-juristischen Standpunkt aus erscheint uns das Ver-
brechen als die schuldhafte rechtswidrige Handlung.
Das Verbrechen ist also zunächst Handlung, d. h. menschliche Willens-
betätigung, durch welche eine Veränderung in der Außenwelt, ein Erfolg, her-
beigeführt wird. Dabei steht dem Tun das Unterlassen dann gleich, wenn eine
Rechtspflicht zum Tun bestanden hat (das sog. Unterlassungsdelikt). Wer
einen Ertrinkenden nicht rettet, obwohl er es zu tun vermochte, ist für den
Tod nur verantwortlich, wenn er, etwa als Schwimmlehrer, zur Rettung
rechtlich verpflichtet war. Der in der deutschen Literatur lebhaft geführte
Streit, ob das Unterlassen für den Erfolg kausal sei oder nicht, ist ohne prak-
tische Bedeutung, wohl auch ohne wissenschaftlichen Wert.
Das Verbrechen ist ferner rechtswidrige Handlung, d. h. es enthält
formell die Übertretung einer Rechtsnorm, materiell die Verletzung oder Ge-
fährdung eines Rechtsgutes, dessen Träger ein einzelner oder die staatliche
Gemeinschaft selbst sein kann. Durch das Vorliegen bestimmter Voraus-
setzungen wird aber die sonst gegebene Rechtswidrigkeit ausgeschlossen; und
mit ihr entfällt selbstverständlich auch die Strafbarkeit der Handlung. Die
Fälle des Ausschlusses der Rechtswidrigkeit sind im Strafgesetzbuch nur zum
kleinsten Teil ausdrücklich behandelt; mehrfach fehlt die gesetzliche Regelung
überhaupt. Nicht rechtswidrig ist die Notwehr, d. h. die Verteidigung gegen
einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff durch Verletzung des Angreifenden.
Nach geltendem Recht darf auch ein geringfügiges Vermögensobjekt durch die
Tötung des Angreifers verteidigt werden, wenn die Verteidigung nicht auf
andere Weise geschehen konnte. Hat der Täter die Grenzen der erforderlichen
Verteidigung aus Furcht, Bestürzung oder Schrecken überschritten, so handelt
er rechtswidrig (ist also auch ersatzpflichtig), wird aber nicht bestraft. Die
Rechtswidrigkeit wird ferner ausgeschlossen durch den Notstand, d. h. durch
einen Zustand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es keine andere Rettung gibt,
als die Verletzung eines unbeteiligten Dritten. Das Strafgesetzbuch behandelt
bloß den Notstand für Leib und Leben und gestattet die Notstandshandlung
nur zugunsten des Handelnden selbst oder eines Angehörigen. Das Bürgerliche
Gesetzbuch ist darüber hinausgegangen und hat auch die Verteidigung .anderer
Güter, ohne Einschränkung der Nothilfe, zugelassen, wenn nur der zugefügte
Schaden geringer ist als der abgewendete. Für alle Fälle des Notstandes ist es
aber allerdings bestritten, ob wirklich die Rechtswidrigkeit der Rechtsver-
letzung oder ob nicht bloß ihre Strafbarkeit ausgeschlossen wird. Die Rechts-
widrigkeit entfällt weiter in allen Fällen, in denen der Handelnde ein Recht
zur Vornahme der Handlung hatte; wie bei der Festnahme eines steckbrieflich