Die Kriminal-
soziologie.
Krimioal-
statistik.
256 FRANZ voN Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
wendig gerade zum Verbrechen, mitbringen. Damit ist die Bedeutung der
erblichen Belastung als Ursache der Kriminalität anerkannt; zugleich aber die
Lehre vom geborenen Verbrecher als einer besonderen Spezies der menschlichen
Gattung überwunden.
b) Gerade die Opposition gegen Lombroso, die alsbald in Deutschland
wie in Frankreich sich geltend machte, hatte die Aufmerksamkeit wieder auf
eine längst behauptete, wissenschaftlich freilich noch nicht nachgewiesene Tat-
sache gelenkt: die Abhängigkeit des Verbrechens von der Gestaltung der gesell-
schaftlichen Verhältnisse. Fragte man nach den Ursachen der erblichen
Belastung, so wurde die Betrachtung ohne weiteres auf die Lebensschicksale
der Erzeuger des Verbrechers gelenkt. Und damit erfuhr der Standpunkt der
Beobachtung eine wesentliche Verschiebung. Nicht der Verbrecher als Indivi-
duum, sondern das Verbrechen als eine Kollektiverscheinung des gesellschaft-
lichen Lebens rückte in den Blickpunkt der wissenschaftlichen Forschung.
Neben und über der Kriminalanthropologie entstand die Kriminalsoziologie.
Diese Betrachtungsweise war nicht neu. Schon Montesquieu hatte mit
voller Klarheit und Bestimmtheit darauf hingewiesen, daß Klima und Boden-
beschaflenheit, daß Rasse und Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammen-
lebens bestimmend seien für den Umfang und die Zusammensetzung der Krimi-
nalität. Seither ist der Gedanke niemals vollständig verloren gegangen. Aber
seine Durchführung scheiterte an dem Mangel einer wissenschaftlichen Methode
für die Beschaffung der empirischen Grundlage. |
Diese Methode hat das 19. Jahrhundert gefunden. Es ist die systematische
Massenbeobachtung, die Statistik, in ihrer Anwendung auf die scheinbar will-
kürlichen menschlichen Handlungen, mithin als Moralstatistik oder Kriminal-
statistik. Diese knüpft an die Namen Guerry und Quetelet und führt uns zurück
in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts. Da die Sammlung des Materials die
Kräfte eines Privatmannes weit überstieg, war die neue Wissenschaft in ihrer
Entfaltung an die amtlichen Zählungen gebunden. Bahnbrechend ging hier
die bereits im Jahre 1826 einsetzende französische Kriminalstatistik voran.
Langsam folgten die übrigen Staaten, die bis dahin auf statistische Rechenschafts-
berichte über die geschäftliche Tätigkeit ihrer Justizbehörden sich beschränkt
hatten. 1882 ist die Kriminalstatistik des Deutschen Reiches ins Leben getreten.
Unter mustergültiger Verwertung des Systems der ‚„Zählkarten‘ hat sie bereits
ein überreiches Material der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht,
zugleich aber in wertvollen ‚Erläuterungen‘, in die sich das Kaiserlich Sta-
tistische Amt und das Reichsjustizamt teilen, mit der Verarbeitung des Materials
begonnen.
Erst jetzt war die Möglichkeit gegeben, den Einfluß der gesellschaftlichen
Verhältnisse auf den Gang und auf die Zusammensetzung der Kriminalität
näher zu untersuchen, an die Stelle geistvoller Vermutungen den wissenschaft-
lichen Nachweis vorhandener kausaler Zusammenhänge zu setzen. Schon die
ersten Untersuchungen ergaben die Notwendigkeit, diean Quetelet anknüpfenden
überlieferten Vorstellungen einer Revision zu unterziehen. Die Vergleichung