Das erstinstanz-
liche Verfahren.
266 FRANZ voN LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
weismittel berücksichtigen; das ausdrückliche oder selbst stillschweigende Ge-
ständnis einer Tatsache bewirkt, daß diese beweiskräftig feststeht usw.
In allen diesen Beziehungen verhält sich der Strafprozeß anders. Zur
Erhebung der öffentlichen Klage (anders bei der Privatklage) ist der Staats-
anwalt verpflichtet (oben S. 264); die einmal erhobene öffentliche Klage kann
nicht wieder zurückgenommen werden; durch Geständnis des Beschuldigten
wird die Beweisaufnahme nicht ausgeschlossen; auch die von den Parteien
nicht behaupteten rechtlich erheblichen Tatsachen hat der Richter (der Unter-
suchungsrichter wie der erkennende Richter) von Amts wegen zu berücksichtigen;
in der Auswahl der Beweismittel kann der Richter durch den Parteiwillen
nicht beschränkt werden. Man pflegt zu sagen: im Zivilprozeß herrscht die
Dispositionsmaxime, im Strafprozeß die Inquisitionsmaxime. Oder auch: im
Zivilprozeß handelt es sich um die formelle, im Strafprozeß um die materielle
Wahrheit. Eine wichtige Folge dieses Grundsatzes ist der Ausschluß der sog.
dispositiven Beweismittel im Strafprozeß: es kann also der Beweis einer Tat-
sache nicht auf den Eid der Gegenpartei gestellt werden.
Diesem grundsätzlichen Unterschied entspricht es, daß die Macht-
befugnisse des Richters im Strafprozeß ungleich größer sind als im Zivil-
prozeß. Das zeigt sich zunächst dem Beschuldigten gegenüber. Dieser ist
zwar nicht zur Aussage, aber stets zum Erscheinen vor Gericht verpflichtet;
bei Ausbleiben ist Vorführungs- oder Haftbefehl, unter Umständen die Er-
lassung eines Steckbriefes, zulässig. Er muß sich ferner nicht bloß Durch-
suchung seiner Wohnung und seiner Sachen, sondern auch die Durchsuchung
seines Körpers gefallen lassen. Den schwersten Eingriff in die Freiheit des
Beschuldigten aber enthält die Untersuchungshaft, die wegen Fluchtgefahr
oder Kollusionsverdacht verhängt werden kann; einen dürftigen und ver-
klausulierten Entschädigungsanspruch für unschuldig erlittene Untersuchungs-
haft gewährt das Gesetz vom 14. Juli 1904. Die größere Machtbefugnis des
Gerichts äußert sich aber auch dritten Personen gegenüber. Die Stellung der
Zeugen und der Sachverständigen ist zwar in beiden Prozessen dieselbe. Aber
nur im Strafprozeß besteht eine allgemeine Verpflichtung zur Herausgabe von
Gegenständen, die für die Untersuchung von Bedeutung sein können; eine
Verpflichtung, deren Erfüllung durch Beschlagnahme oder durch Zwangs-
maßregeln gesichert wird. Es können ferner auch bei anderen Personen als dem
Beschuldigten Haussuchungen stattfinden; ob Unverdächtige auch verpflichtet
sind, ihren Körper als Augenscheinsobjekt zur Verfügung zu stellen (etwa die
von ihrem Mann mißhandelte Frau), ist eine im Gesetz nicht ausdrücklich
geregelte und daher sehr bestrittene Frage.
2. Der Gang des ordentlichen Verfahrens in erster Instanz
gestaltet sich verschieden, je nach der Verschiedenheit des zur Urteilsfällung
berufenen erstinstanzlichen Gerichts. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den
Gang des Verfahrens bei schwurgerichtlichen Verbrechen. Das Vorverfahren
beginnt mit den Vorerhebungen, die der Staatsanwalt selbst vornimmt oder
durch die Polizei und die Amtsrichter vornehmen läßt, um sich darüber klar