B. Das Strafprozeßrecht. III. Neue Ideen? 269
Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden; zuungunsten des Freige-
sprochenen nur, wenn er vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges
Geständnis abgelegt hat. Das Gericht hat zunächst den Antrag auf Wieder-
aufnahme, unter Erhebung der angegebenen Beweise, zu prüfen; wird dem
Antrag stattgegeben und kann der Verurteilte nicht etwa sofort freigesprochen
werden, so wird die Erneuerung des Verfahrens angeordnet, das dann ganz so vor
sich geht, wie wenn es sich um ein erstes Verfahren handelte. Wenn das Ver-
fahren die Unschuld des früher Verurteilten dartut oder den gegen ihn bisher
vorliegenden Verdacht beseitigt, so gewährt ihm das Gesetz vom 20. Mai 1898
gegen die Staatskasse einen Anspruch auf Entschädigung.
4. Neben dem ordentlichen Verfahren regelt die Prozeßordnung auch
verschiedene besondere Verfahrensarten. Der Erlaß einer polizeilichen
Strafverfügung bei Übertretungen ist durch die Reichsgesetzgebung nicht
angeordnet, wohl aber zugelassen; doch kann die Polizeibehörde keine andere
Strafe als Haft bis zu 14 Tagen oder Geldstrafe verhängen. Der Amtsrichter
kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft ohne Verhandlung (also ohne Gehör
des Beschuldigten) einen Strafbefehl erlassen; bei Zoll- und Steuerdelikten sind
Strafbescheide der Verwaltungsbehörde vorgesehen. In allen drei Fällen hat
der Beschuldigte das Recht, binnen einer Woche gegen die Strafverfügung und
den Strafbescheid gerichtliche Entscheidung, gegen den Strafbefehl die Ein-
leitung des ordentlichen Verfahrens zu beantragen. Gegen Abwesende, die
sich der Wehrpflicht entzogen haben, findet ein summarisches Kontumazial-
verfahren statt. Es kann endlich die Einziehung, Vernichtung oder Unbrauch-
barmachung von Gegenständen auch ohne die Verfolgung einer bestimmten
Person in einem sog. objektiven Verfahren ausgesprochen werden.
5. Über die Strafvollstreckung enthält die Strafprozeßordnung nur
wenige unzusammenhängende Bestimmungen. Das praktisch weitaus wich-
tigste Gebiet, die Vollstreckung der Freiheitsstrafen, ist reichsrechtlich über-
haupt so gut wie gar nicht geordnet. Das seit dreieinhalb Jahrzehnten im
Reichstag oft begehrte Reichsgesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafen ist
bis heute ein frommer Wunsch geblieben, dessen Verwirklichung wohl erst nach
Durchführung der Strafgesetzreform erfolgen wird.
III. Neue Ideen? Wer mit uns die Entwickelung des Strafrechts bis
zum Beginn des neuen Jahrhunderts verfolgt hat, der wird nicht leugnen können,
daß aus dem wogenden Kampf der Meinungen, daß aus all der Unklarheit und
Kleinlichkeit des Schulgezänks große, klare, fruchtverheißende Gedanken
hervorgewachsen sind, ein Programm systematisch geschlossener Einzelforde-
rungen, um das weiter gerungen werden kann und weiter gerungen werden
wird. Für das Gebiet des Strafprozesses läßt sich das gleiche nicht behaupten.
Zwar sehen wir auch hier dıe gärende Unzufriedenheit mit dem geltenden Recht.
Aber die Abänderungsvorschläge beschränken sich auf einzelne Punkte von
verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung. Und selbst auf diesem beschei-
denen Gebiet ist von einer Klärung der Ansichten noch nichts zu merken. Ich
Besondere Ver-
fahrensarten.
Straf-
vollstreckung.
Reform-
vorschläge auf
strafprozessu-
alem Gebiet.